„Da hat sie nicht so unrecht.“
„Sie zählt deinen Chef zu diesem Räderwerk.“
„Kozic hat Verbindungen, sonst hätte er nicht den Auftrag bekommen.“
Kräftiger Wind wehte von der geöffneten Terrassentür in das Wohnzimmer. Draußen ging prasselnd ein Gewitterregen nieder.
„Ich will raus, in den Regen, mich bewegen, nach all dem Sitzen und Stehen“, sagte Manuel. „Gehst du mit mir joggen?“
„Sollen wir nicht warten, bis das Ärgste vorüber ist?“
„Auf gar keinen Fall. Gewitterregen bedeutet Hochgenuss.“
Nach einigem Zögern kleidete sich Judith um und lief mit Manuel in das laue Nass, den Kurpark entlang, zu einem Weg, der bergauf, zur Jubiläumswarte auf dem Harzberg, führte, durch Föhrenwälder, die dem Berg den Namen gegeben hatten.
Als die beiden in einiger Entfernung von den Häusern des Kurortes und deren Bewohner waren, stieß Manuel einen tarzan-ähnlichen Schrei aus und verstärkte sein Tempo.
Judith, die früher eine bessere Läuferin als Manuel gewesen war, staunte, dass er sie auf diesem Gebiet überholt hatte, und sie wusste nicht, ob sie das störte oder stolz auf ihn machte.
Egal, sie versuchte mitzuhalten, obwohl sie kaum mehr Luft bekam. Also ließ sie ihn ziehen und hoffte, er würde am Ziel auf sie warten.
Tatsächlich stand Manuel, mit den Händen auf seine Oberschenkel gestützt, am Aussichtsturm auf der Rudolfshöhe.
Als Judith ebenfalls stoppte, um etwas auszuruhen, fiel ihr die Begegnung mit Gretel Mardein ein, und sie sagte laut: „Sie weiß mehr, viel mehr, als sie gesagt hat.“
„Wer?“, fragte Manuel.
„Gretel Mardein. Ich bin gespannt auf das morgige Treffen mit Waldheim.“
„Wesely hat morgen Vormittag einen Termin im Flughafen in Schwechat. Mit einem englischen Produzenten.“
„Film?“
Manuel nickte bestätigend.
„Das geht aber schnell.“
„Genug gerastet?“, fragte Manuel.
„Es geht schon wieder. Ich freu mich auf die Dusche. Ich darf doch zuerst?“
„Nein. Wir machen das gemeinsam.“
Waldheim begrüßte an diesem Freitagmorgen Judith besonders herzlich, indem er sie umarmte. Dann schlug er einen Spaziergang am Donaukanal vor.
„Es ist so schön heute, und Erwin hat auch seine Freude daran.“
„Von mir ganz abgesehen“, sagte Judith.
„Es ist beachtlich, wieviel Leben der Fluss in die Stadt bringt“, schwärmte Hans Waldheim, während Schnauzer Erwin die Enten in Ufernähe mit Interesse betrachtete.
Doch ein Pfiff seines Herrn genügte, um ihn von etwaigen Jagdabenteuern abzubringen.
„Erwin ist ein wohlerzogener Hund“, bemerkte Judith.
„Wir haben uns so sehr aneinander gewöhnt, dass einer dem anderen gehorcht.“
„Frau Mardein hat anklingen lassen, dass ein Gespräch mit Ihnen wichtig wäre“, kam Judith zum eigentlichen Thema des Treffens mit ihrem Chef.
„Die gute Gretel. Auch sie ist eine Seelenverwandte. Wie Erwin, obwohl ihr der Vergleich nicht recht wäre.“
Judith schmunzelte, betrachtete den Riesenschnauzer eingehend und fand letztendlich, dass der Schnauzer eher Manuel ähnelte, in seiner athletischen Gestalt. Aber das durfte sie ihrem Freund nicht sagen. Das würde er ihr übel nehmen.
„Ich habe Ihnen beim letzten Mal nicht alles gesagt“, sagte Waldheim, „aber Sie wissen jetzt, dass Hajo mein Sohn ist. Mein einziges Kind.“
„Es tut mir sehr leid, was mit ihm geschehen ist.“
„Danke, Judith. Sie haben das gut formuliert. Was mit ihm geschehen ist. Ich weiß es nicht, zweifle aber daran, dass es sich so verhalten hat, wie man behauptet. Gretel hat von einem Opferlamm gesprochen. Ich weiß nicht, ob es stimmt, doch möchte ich Gewissheit.“
„Das ist der Auftrag, den Sie mir gegeben haben. Ich werde mich bemühen, die Wahrheit herauszufinden.“
„Danke, Judith.“
„Gretel Mardein hat von einer möglichen Verschwörung böser Menschen gesprochen.“
„Die gute Gretel!“
„Teilen Sie diese Vermutung?“
„Ich bin mir nicht sicher. Die Verbindung zu Hajo war abgerissen. Damals, als ich ihm noch nahe war, war das auszuschließen. Undenkbar. Aber Menschen verändern sich. Wobei ich es mir nicht vorstellen kann, was er mit einem kleinen Jungen hätte anfangen sollen.“
„Was für ein Mensch war ihr Sohn zu der Zeit, in der Sie ihn kannten?“
„Er war einmalig. Ein freundliches, ausschließlich positives Kind. Nicht so wild wie die anderen, tierlieb. Etwas zart, oft krank.“
„Und später?“
„Zu zart, zu weich.“
„Kein richtiger Junge?“
„Das war lange Zeit ein schwieriges Thema für mich. Aber jetzt … kein Problem mehr.“
„Sie meinen seine Homosexualität.“
Waldheim zuckte mit den Schultern. „Ich vermute, dass er schwul war. Allerdings hat er sich nie für kleine Kinder interessiert. Er hatte immer gleichaltrige Freunde, so lange ich das verfolgen konnte. Und er war oft allein. So allein, dass wir uns einen Hund zulegten. Einen ersten Riesenschnauzer. Erwin ist der dritte.“
Bei der Erwähnung seines Namens ließ der Hund den Stock fallen, lief zu seinem Herrn und ließ sich streicheln.
„Und er schwamm wahnsinnig gern. Eine richtige Wasserratte, wie man so sagt. Wir erwarben damals das Haus bei Himberg für die Wochenenden und die Ferien. Und dort hatte er Kontakt mit Nachbarskindern.“
„Ich verstehe“, sagte Judith und fragte dann ihren Chef, was Gretel Mardein mit dem Begriff Verschwörung gemeint haben könnte.
„Die Medienvermarktung um Ben Wesely verläuft etwas zu glatt, zu perfekt.“
„Manuel hat erzählt, dass der junge Mann heute einen Termin mit einem Filmproduzenten hat.“
„Zwei Wochen nach seiner Selbstbefreiung. Er wird perfekt gemanagt. Die Frage ist nur, was es ihm bringt, abgesehen vom Geld, von dem auch andere profitieren.“ Als Judith schwieg, fuhr er fort. „Ich rede nicht gerne darüber, weil ich keinen Beweis habe. Und ich möchte nicht meinen Konkurrenten verunglimpfen, nur weil er in dieser Sache erfolgreicher ist als ich.“
„Aber …“, versuchte Judith, ihren Chef zu verleiten, weiterzumachen.
„Ist das Aber so deutlich aus meiner Rede herauszuhören?“, fragte Waldheim und schmunzelte zum ersten Mal.
Judith nickte und betonte, Waldheim könne ihr gegenüber ganz offen sein.
„Gut. So sei es denn“, sagte er und steuerte ein Bank an. „Ich brauche eine kurze Rast“, erklärte er.
Sobald sie saßen, begann Judith den Hund mit den mitgebrachten Frolic-Ringen zu füttern. Waldheim überlegte einige Minuten, bevor er begann.
„Es gibt einen Herrenclub – und jetzt lachen Sie nicht – in der Herrengasse, im ersten Stock des Café Bades. Ihm gehören neben Cramar auch noch der Jugendpsychiater …“
„Holzmeister.“
„Und der Chefermittler, ein Oberst Gerhartinger, an.“
„Das schaut tatsächlich nicht besonders gut aus.“
„Nein“, bestätigte Waldheim. „Der Schönheitsfehler daran ist die Tatsache, dass es sich um eine noch ungeprüfte Behauptung handelt. Ein anonymes Schreiben, das mich am Dienstag erreicht hat.“
„Sie haben dieses Schreiben noch?“
„Natürlich“, sagte Waldheim und griff nach seiner Brieftasche, der er ein mehrfach gefaltetes Stück Papier entnahm.
„Eine Kopie. Das Original liegt im Safe“, erklärte er noch. „Falls wir eines Tages Fingerabdrücke vergleichen können.“
Judith nahm das in Computerschrift bedruckte Blatt und studierte den knappen Text.
Der Herrenclub hat Wesely gerettet. Kinderpornos, nein danke! Medienlügen, nein danke! Hans-Josef Hebenstreit ist unschuldig!
Judith dachte nach. Sie hatte den Eindruck, der Verfasser wollte an den Stil des Bombenbauers Franz Fuchs erinnern, der im Gerichtssaal ähnlich formulierte Sätze gebrüllt hatte, bis er sich in der Gefängniszelle erhängte.
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