"Und Sie sind sicher, dass Sie hier gewohnt haben?"
"Was meinen Sie mit 'sicher'? Kann man denn bei irgend etwas wirklich sicher sein? Ich erinnere mich. Und weil ich mich vergewissern will, dass andere sich auch an mich erinnern ..."
"Heutzutage sind eine Menge Verrückte unterwegs."
"Danke für den Hinweis. Ich bin eben aus der geschlossenen Anstalt entflohen, wo ich zwei Pfleger und die Stationsschwester als Geiseln genommen hatte", sagte er. "Bevor mir amtlich bescheinigt wurde, ich sei gemeingefährlich, hab ich draußen in den Straßen Jack the Ripper kopiert – das ist es doch, was Sie hören wollen?"
"So genau wollt' ich's nun auch wieder nicht wissen," sagte sie und schob die Wohnungstür zu.
Gorden verließ sein ehemaliges Zuhause mit der fast schon zur Gewissheit gewordenen Überzeugung, dass er nie mehr hierher zurückkehren würde. Dieses Haus brauchte weder ihn noch sonst jemand, es war vollauf damit beschäftigt, Hausierer und unerwünschte Vertreter abzuwehren. Er würde sich auf die Suche nach Katja, die offenbar seine Schwester war, und einem gewissen Doktor Stachus Klein machen.
Ein aufregendes und anstrengendes Unternehmen. Dazu taugte kein fester Wohnsitz. Man schlief unter Marktständen oder auf Parkbänken, und falls das alles nicht ausreichte, gab es immer noch Pamela.
Die Lokale und Kneipen in Doktor Kleins Umgebung schienen von seiner Existenz noch nie etwas gehört zu haben. Vielleicht war er ja Abstinenzler oder allergisch gegen Tabakrauch? Über den meisten Theken ballten sich die Rauchwolken, als sei der Holzfußboden in Brand geraten.
Gegen Abend begannen seine Füße zu schmerzen, besonders der mit dem Krokodillederschuh. Er ging die Treppe zu einem Kellerlokal hinunter, um jemanden zu finden, der etwas über Kleins Verbleib wusste.
Doch das schmierige Ambiente mit dem steifen, speckigen Filzvorhang im Eingang, dem verblichenen Spiegel an der Thekenwand, den silberfarbigen Gipsfiguren und roten Kunststoffleuchten kam ihm so passend vor für seine künftige Existenz als Stadtstreicher, dass er sich auf seine neue Wahlverwandtschaft einen Calvados genehmigte. Der scharfe Apfelbranntwein rann wie ein glühendes Lebenselixier durch seine Kehle.
Zwei Männer in abgetragenen Popelinemänteln beäugten ihn sachkundig, und ihre unrasierten Gesichter verzogen sich anerkennend, als er sich auf seinem Hocker reckte und streckte wie ein krankes Tier nach dem Heilschlaf. Sie erinnerten Gorden an entlassene Buchhalter.
Der eine hatte zwei Kugelschreiber neben sich liegen und notierte Zahlenkolonnen, und der andere pflegte vor jedem Schluck sein Glas gegen das Deckenlicht zu halten, als müsse er es erst auf seinen hygienischen Zustand prüfen. Das Ergebnis fiel regelmäßig zu seiner Zufriedenheit aus.
Gorden genehmigte sich noch einen Calvados, und die Bedienung kassierte sofort. Vielleicht, weil er beim erstenmal zu lange in seinen Jackentaschen nach Kleingeld gesucht hatte.
Die beiden Buchhalter hätten ihn gern auf ein weiteres Glas eingeladen, aber er lehnte dankend ab. So, wie er sich jetzt fühlte, war die Welt in Ordnung.
Doch ein paar Sekunden später begann der Spiegel vor ihm auf bedrohliche Weise seine Form zu verändern – Quadrat, Rhombus, Trapez –, ein oszillierender Wirbel aus Linien und Winkeln ... und dann, endlich, endlich , als er schon glaubte, alles nehme nie ein Ende, wieder jenes liegende Rechteck, das, hoffentlich, seine natürliche Gestalt war. Aber die stabile, rechtwinklige Geometrie war nur Täuschung, das sah er jetzt ganz deutlich. Eine Zufälligkeit seiner Pupillenkonstruktion. Die Kneipenfenster entpuppten sich als Bullaugen, und die Wand mit ihren Metallstangen und imitierten Kupferplatten nahm unversehens das Aussehen eines Unterseeboots an. Oben schlugen die Brecher gegen das Glas, schäumende, weiße Gischt ...
Die wandernde Form seines Gesichts im Barspiegel, die sich mit den Wellen des Belags verzerrte und seinen Nasenansatz wie eine Gummimaske dehnte und wieder zusammenschloss, wirkte auf unheimliche Weise realistischer als die Gesichter der beiden Buchhalter.
Er griff sich mit der Hand an die Kehle ... "Zu wählen zwischen Tag und Nacht steht jedem frei, und Schwarz und Weiß sind mit dem gleichen Licht bedacht ...", brachte er mühsam heraus. Der Satz war wie eine Bastion, ein Bollwerk der Freiheit gegen die Anbrandungen seines zerfließenden Bewusstseins.
"Alle Achtung, Sie sind wohl so was wie 'ne echte Kapazität, was?“, fragte der Mann mit den Zahlenkolonnen ohne jede Spur von Ironie. "Dann sollten Sie mal 'nen Blick auf das Gewinnspiel hier werfen. Mein Freund und ich, wir streiten uns darüber, ob man damit Millionär werden kann."
"Ist bloß 'n mieser Bluff wie das meiste auf der Welt", sagte der andere.
Gorden rutschte bereitwillig vom Barhocker. Der Raum hatte wieder sein normales Aussehen angenommen. Er atmete tief durch und versuchte nicht in den Barspiegel zu blicken. Doch als er stand, fühlte er, dass seine Beine wegsackten. Es war eine Schwäche, die sich nicht mehr beherrschen ließ.
Er kippte vorgebeugt gegen die Thekenstange, streckte noch einmal seine Hand danach aus ... dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Als er erwachte, beugte sich ein bekanntes Gesicht über ihn. Gorden studierte fragend die lange, spitze Nase, das strohige, hellblonde Haar, so zerzaust und unregelmäßig wie abgerissene Weizenhalme, das dem Kopf mit den Sommersprossen etwas jugendlich Pfiffiges verlieh. Über dem linken Nasenflügel war eine kleine blaue Narbe, halbmondförmig, wie eine Sichel. Er kannte diese Narbe, und er kannte das Gesicht.
Er wusste momentan nur nicht genau, wo er es hinstecken sollte.
"Hallo, Mark, alter Junge. Kam gerade herein, als es passierte. Du bist ohnmächtig geworden."
"Wer sind Sie?"
"Großer Gott, geht's dir so dreckig, dass du dienen alten Schulfreund Zambrini nicht mehr erkennst?"
Richtig, er erinnerte sich wieder an den hellblonden Italiener, den nicht ganz freiwilligen Nachwuchs eines Sizilianers, der für ein ostdeutsches Export-Import-Unternehmen arbeitete, und einer Leipziger Stenotypistin.
Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Zambrini hatte immer von ihm abgeschrieben, und als Dank dafür hatte er ihm angeboten, eines Tages seine Familie in einem Dorf hinter Palermo zu besuchen, sobald der Eiserne Vorhang etwas durchlässiger geworden sei.
"Hans, nicht wahr?"
"Volltreffer, alter Knabe. Na also, geht ja schon wieder. Was ist passiert?"
"Weiß nicht. Hab 'nen Filmriss."
"Zuviel getrunken?"
"Nur zwei, drei Glas."
"Setz dich da auf die Bank, und ruh dich erst mal einen Moment lang aus." Er fasste ihm unter die Achselhöhlen, und Gorden spürte, dass seine Knie noch genauso weich waren wie vor dem Sturz. "Einen Kaffee?"
"Lieber nicht. Mir fehlen mindestens vierundzwanzig Stunden. Kaffee macht die Sache nur noch schlimmer. Genauso wie Alkohol", fügte er nachdenklich hinzu.
"Du erinnerst dich nicht mehr an die Party?“, fragte Zambrini.
"Welche Party?"
"Hm, merkwürdig. Wir waren bei der Orlowsky eingeladen. Das übliche Spektakel, Parteifritzen, Künstler, Intellektuelle, die meisten wohl, weil sie sich bloß dafür halten."
"Bei der Orlowsky, ja, ich erinnere mich."
"Sie schafft es jedes Vierteljahr, noch ein paar Verrückte mehr einzuladen. Wenn die Kirmes in dem Tempo weiterwächst, muss sie sich bald ein neues Haus anschaffen."
"Erinnerst du dich noch, mit wem ich zusammen war?"
"Jemand gab dir was zu rauchen, glaube ich."
"Wer war bei mir?"
"Hm, du kamst allein, glaube ich. Lass mich überlegen ... ja, und es wurde über Stachus' neues Buch geredet."
"Ein Buch?"
"Ein Buch projekt . Himmel noch mal, von deinem Gedächtnis scheint ja wirklich nicht viel übriggeblieben zu sein, Gorden." Zambrini verzog besorgt das Gesicht. "Du bist schließlich sein Mitautor – und stilistischer Berater. Ihr habt gemeinsam dafür recherchiert. Du, Stachus und Katja. Ich glaube, Katja hat sogar den Löwenanteil bei den Recherchen geleistet. Na ja, ist ja auch nicht weiter verwunderlich – bei ihrer Parteiarbeit und den Kontakten, die sie hat, meine ich."
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