"Kantstraße neun."
Er horchte verwundert dem Klang seiner Stimme nach. Kantstraße , das musste die Straße sein, wo seine Wohnung lag.
Mit einem Schlage fühlte er sich wieder im Besitz seines Gedächtnisses, obwohl das eine mindestens genauso fragwürdige Illusion war wie die Überzeugung, als Angestellter über sein Schicksal verfügen zu können.
Aber dort würden Erinnerungsgegenstände in Hülle und Fülle sein: Papiere, Bilder, Möbel, Kleidung, Kalender und sogar Briefe.
Aus dem Markenetikett einer Hose ließ sich vielleicht rekonstruieren, wo sie gekauft worden war. Ein Foto musste einen ganzen Wust von Erinnerungen wachrufen. Bücher, Artikel, falls er denn wirklich welche geschrieben hatte, Rechnungen. Ein Zahlungsbefehl zum Beispiel würde wie ein Geständnis wirken.
Dein Charakter ist ausgezeichnet, Gorden, aber deine Zahlungsmoral läßt sehr zu wünschen übrig. Wie viele Tage Ihrer Schuld gedenken Sie als Haft abzusitzen? Selbst eine Verurteilung als Raubmörder wäre noch eine Erleichterung gewesen angesichts dieses konturlosen Daseins, dieses Taumels durch das Nichts.
Das Haus kam ihm unbekannt und grau vor. Ein glanzloser Wohnsilo, der aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg stammte. Seitdem musste sein Besitzer gerade zwei halbe Eimer Farbe für den Anstrich der Fassade verwendet haben. Sich an ein so exquisites Quartier nicht mehr erinnern zu können war fast schon wie Selbstschutz.
Er musterte die Türschilder. Den Namen Mark Gorden gab es hier nicht.
Aber im zweiten Stock hatte man das Schild entfernt. Er sah durch die Scheiben des Krämerladens auf der anderen Straßenseite. Der Verkäufer trug einen weißen Kittel und füllte Regale auf.
Angestellter eines kleinen Lebensmittelgeschäftes zu sein, dachte er – das würde alle Probleme mit einem Schlage beenden. Man wusste, wer man war, wenn auch um den Preis einer klaren Rangordnung von Herr und Sklave.
Man ging morgens zur festgesetzten Zeit an die Arbeit, und der Tag verlief ohne Überraschungen, denn wer im Viertel anschrieb und wer selten seine Rechnungen bezahlte, das erfuhr man schon in den ersten Wochen.
Er öffnete mit gespanntem Blick die Tür zum Treppenhaus. Auf dem Zwischenabsatz spielten Kinder, zwei rotznasige Banditen, die einem Mädchen mit stämmigen Beinen – es war zwei oder drei Jahre älter als sie – das Zigarettenrauchen beibrachten. Er versuchte an ihren Mienen abzulesen, ob sie ihn kannten.
Aber das war ein genauso hoffnungsloses Unterfangen, wie einem Pokerspieler vor dem Aufdecken seine Blattfolge zu entlocken.
Als er um den nächsten Treppenabsatz bog, glaubte er sich plötzlich zu erinnern. Ein unerkanntes Genie hatte sich auf der Wand zwischen den Korridortüren mit der in grellen Grundfarben gemalten Vision einer Welt verewigt, die aus Männern in Tauchanzügen, fehlgebildeten Gnomen und gallertartigen Außerirdischen bestand.
Hänsel-und-Gretel-Farben, Grün, Rot und Gelb in einer Intensität, die sogar einen Blinden hätte glauben machen können, das Dunkel vor seinen Pupillen beginne sich endlich zu lichten.
Er hoffte inständig, dass er nicht selbst dieser unbekannte Künstler war, es hätte ein etwas bizarres Licht auf sein Innenleben geworfen. Gorden drückte die Etagentür auf, sie war bloß angelehnt. Im Wohnzimmer stand ein voller Farbeimer. Der Raum hinter dem Durchbruch erweiterte sich an der Fensterseite zum alkovenartigen Erker, in dem nur noch ein paar leere Blumentöpfe standen. Der Boden des Podests war mit Sitzmatten aus geflochtenem Bast bedeckt.
Das Ganze erinnerte wegen seines vorgebauten Glasdachs an ein Atelier. Durch die Dachscheiben sah man den brüchigen Backsteinkamin. Die Tapeten oder das, was von ihnen übriggeblieben war, denn einige Bahnen hingen in Fetzen herunter, als habe man bereits mit der Renovierung begonnen, waren in nüchternem Weiß gehalten.
Auf dem Kaminvorsprung im Wohnzimmer lag ein Stapel alter Zeitschriften. Er durchstreifte unruhig die Räume und blieb erst wieder stehen, als der Blick aus dem Fenster seine Aufmerksamkeit erregte.
Ja, er erinnerte sich: Diesen Ausblick hatte er immer besonders gemocht …
Es war ein kreisrunder kleiner Park mit alten Bäumen und weißen Bänken. In der Mitte stand ein bronzener Vogelbauer.
Also gut, machen wir Kassensturz , dachte er. Dies ist zweifellos meine Wohnung. Aber warum wurde sie ausgeräumt?
Er kehrte ins Treppenhaus zurück und musterte noch einmal die Namensschilder. Keines kam ihm bekannt vor. Er sah zwischen dem Geländer hindurch auf den ersten Treppenabsatz hinunter. Die Kinder waren verschwunden, man hörte sie im Hof lärmen.
Gorden ging die Seitentreppe zum Anbau hinauf und folgte einem Geruch von Essen, der so scheußlich war, dass man damit leicht ganze Säle hätte räumen können – eine Mischung aus Kohl, ranzigem Öl und eingelegtem Knoblauch, Speck und Majoran, wenn er sich nicht täuschte. Aber das war sicher nicht das vollständige Geheimnis der Mischung.
Er läutete und wartete ab, bis sich schlurfende Schritte hinter der Tür näherten. Dann trat er einen Schritt zurück, damit man seine volle Statur im Türspion begutachten konnte.
"Sie wünschen?"
Das Gesicht der Frau erinnerte an einen fleischfarbenen Blasebalg. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie so unvermittelt ihren Kopf durch den Türspalt stecken würde. Ihre Hässlichkeit ließ ihn unmerklich zurückfahren.
"Na, Kleiner, 'n Schreck gekriegt beim Anblick einer richtigen Madam?"
"Wir kennen uns doch, oder?“, fragte Gorden.
"Kennen? Nein ... sollten wir das?"
"Ich bin der Mieter aus der Wohnung unter Ihnen."
"So? Na, da haben Sie Pech. Ich kümmere mich nicht um die Nachbarn im Haus. In dieser Bruchbude geht jeder seiner eigenen Wege."
"Aber wir müssten uns schon mal irgendwann im Treppenhaus begegnet sein," beharrte er.
Sie studierte kopfschüttelnd sein Gesicht. "Ihr jungen Burschen seht doch alle gleich aus."
Gorden verlor schlagartig die Lust, noch weiter sein Recht bei ihr geltend zu machen, ein Mensch aus Fleisch und Blut und kein nichtssagender Schatten zu sein: jemand, der irgendwann wahrgenommen worden war. Und sei es auch nur, weil er vergessen hatte, den Flur zu wischen oder die Mülleimer zu leeren.
Er ging hinunter und läutete an der Tür zwei Etagen tiefer.
Eine Frau um die Vierzig öffnete, Typ verhärmte Lehrerin in ausgeleierter Strickjacke.
"Pardon, ich war ein paar Tage lang nicht zu Hause", sagte er und zeigte durch die Flurdecke nach oben. "Haben Sie eine Ahnung, wer meine Wohnung ausgeräumt haben könnte?"
"Ihre Wohnung ausger ...? Nein."
"Aber Sie erinnern sich noch an mich?"
Ihr Blick forschte einen Moment lang in seinem Gesicht. Sie hatte dunkle, traurige Augen, als sei sie zu oft von den Männern enttäuscht worden. Gorden versuchte möglichst seriös und vertrauenswürdig dreinzublicken, ganz der nette Mieter von nebenan, der immer für eine Dose Kondensmilch oder vergessene Zündhölzer zur Verfügung stand.
"Bedauere. Ich bin gerade erst von einem längeren Studienaufenthalt aus Italien zurückgekehrt."
"Gorden, Mark Gorden", sagte er und streckte leutselig seine Hand aus. "Wie gefiel Ihnen Florenz?"
"Tut mir leid, hier im Haus kümmert sich niemand um den anderen."
"Hab' ich auch schon bemerkt." Gorden nickte vielsagend, er musterte die kleinen Fäuste in den ausgebeulten Taschen ihrer Strickjacke – dann machte er auf dem Absatz kehrt. Er hatte es plötzlich eilig, aus dem Haus zu kommen. Dass er so schnell aufgab, schien sie zu überraschen.
"Jemand hat Ihre Wohnung ausgeräumt?" rief sie ihm nach. "Ist ja ungeheuerlich. Wenn Sie wollen, koch ich Ihnen schnell einen Kaffee? Sie könnten von meinem Telefon aus die Polizei anrufen."
"Ihr freundliches Angebot in Ehren, aber das wäre doch wohl ein wenig zuviel Aufwand wegen einer verschwundenen Wohnungseinrichtung." Er spürte, dass mit seinem Ärger auch sein Sarkasmus zurückgekehrt war, und diese Beobachtung erleichterte ihn mehr als ein paar wiedergefundene Stühle. Jemand schien alle Erinnerungen an ihn ausradieren zu wollen, falls er seinen Hausstand nicht selber aufgelöst hatte, und offensichtlich hätte er dafür kein besseres Haus als dieses finden können.
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