Pamela fröstelte, und Zambrini hatte ihr seinen Mantel über die Schultern gelegt. Darunter trug er einen schwarzen Trainingsanzug, der ihn wie ein professioneller Fassadenkletterer wirken ließ.
"Glaubst du wirklich, dass sie nichts hören wird?“, fragte er zweifelnd.
"Alma ist ziemlich taub. Ich weiß, dass sie immer ihr Hörgerät leiser dreht, bevor sie ins Bett geht."
"Also gut – los jetzt", sagte Zambrini. Er trug eine ausziehbare Spezialleiter, die für artistische Darbietungen diente. Sie traten aus dem Schatten des Vordachs. Vor ihnen war die Gartenhecke und an ihrem Ende, wo der Weg zur Straße begann, ein Stück Bretterzaun, das der Sturm umgeworfen hatte.
Als sie den Rasen erreichten, huschte ein Autoscheinwerfer über die Fassade. Er kam vom weit entfernten Fahrweg an der Durchgangsstraße ... trotzdem blieben sie wie erstarrt stehen.
"Keine Gefahr, weiter, weiter ...", hörte er Zambrinis heisere Stimme neben sich.
Almas Zimmer lag über dem Eingang, falls sie aus dem Fenster sah, würde ihr die Hausecke den Blick auf seine Kletterkünste verwehren. Zambrini legte sorgfältig die Leiter an. Sie reichte etwa eine Körperlänge unter den Balkon.
Er rückte sie so lange zurecht, bis sie den richtigen Halt gefunden hatte. Als er auf der obersten Sprosse stand, hangelte er sich an der Abflussrinne weiter. Seine Ballettschuhe nutzten jeden Vorsprung in der Backsteinwand aus.
"Großer Gott", sagte Pamela entsetzt. "Er bricht sich gleich den Hals ..."
Dann hatte er sich auch schon über das Balkongeländer geschwungen und winkte ihnen zu. Gorden schob die Leiter zusammen. Er legte sie ins Gebüsch an der Hauswand, damit sie nicht sofort entdeckt werden würde, falls jemand vorüberging. Gleich darauf sah er Zambrinis dunkel gekleidete Gestalt die Glastür öffnen.
"Sie schnarcht, das alte Mädchen macht Geräusche wie eine Motorsäge", flüsterte Zambrini, grinsend den Finger nach oben gerichtet, während Gorden zielstrebig auf die Treppe zusteuerte.
Er versuchte sich zu orientieren. Rechts war die Küche, daneben das Bad mit der Gästetoilette. Die Tür zum Salon stand offen, und trotz des Halbdunkels konnte er über der Couch das Bild einer Waage erkennen. Es war eine Art Stilleben mit Federkiel und Papierrolle, die von einem Band zusammengehalten wurde. In das rote Wachssiegel war eine Waage gleicher Form eingeprägt.
"Jeder nimmt sich ein Zimmer vor", sagte er, als sie in Kleins Etage waren. "Wir suchen nach Hinweisen auf Katja. Und nach dem Manuskript natürlich", fügte er hinzu.
Er schaltete die Deckenlampe in Kleins Arbeitszimmer ein. Der Raum machte nicht den Eindruck, als wenn er durchsucht worden sei – obwohl er das nach dem "Unfall" des Druckers durchaus für möglich gehalten hätte.
Kleins Bücher und Fachzeitschriften in den Regalwänden sahen aus, als seien sie seit Wochen nicht angerührt worden. Gorden wischte probeweise mit dem Finger darüber – keine Spur von Staub. Oder man hatte genügend Zeit gehabt, sich gründlich umzusehen und alles wieder an seinen alten Platz zurückzulegen.
Er erinnerte sich, dass Kleins Haushälterin jede Woche einmal zu ihrer Freundin fuhr, deren Mann ein Geschäft für Imkerbedarf betrieb. Man musste nur den richtigen Zeitpunkt abpassen, um ungestört zu sein.
Er nahm zwei Manuskriptstapel aus dem Regal und sah sie durch, aber es war nichts darunter, das zum Titel ihres Buches passte. Es gab keinen einzigen Hinweis darauf. Gewöhnlich sammelte man für solche Projekte eine Menge Daten und fertigte Notizen und Kapitelentwürfe an.
Auf der Kommode aus Teakholz stand ein Schwarzweißfoto. Es zeigte ein junges Mädchen mit hellblondem Haar, das über der Stirn widerspenstige Locken bildete. Sie hatte ein schmales, ernstes Gesicht, schlanke Hände und trug einen weiten Island-Pullover aus grober Wolle. Sie war hübsch, fand Gorden. Er schien sie zu kennen, aber er hätte nicht zu sagen gewusst, woher.
Obwohl er keine Ahnung hatte, warum, nahm er das Bild aus dem Silberrahmen und steckte es ein. Er kam sich fast so vor, als leide er plötzlich an Kleptomanie – es war wie ein magischer Zwang.
Das Foto „brannte“ in der linken Innentasche seines Jacketts …
Es strahlte eine geheimnisvolle Hitze aus, seine Brust wurde ganz warm davon. Schnell wandte er sich wieder den Papierstapeln auf Kleins Schreibtisch zu. Klein musste ein besessener Arbeiter sein. Ein Diagramm, das mit Bleistift angefertigt worden war, zeigte seine monatliche Arbeitsleistung. Es endete acht Tage vor der Party der Orlowsky.
Das tägliche Pensum war in Worten beziffert: "sechshundertvierzig", "zweihundertachtundneunzig", dann "hundertneunzehn" mit dem Zusatz "heute Erkältung, starke Kopfschmerzen". Ein Titel lautete: "Der Einfluss der Dünnsäureverklappung auf die Biosphäre der Nordsee", ein anderer: "Verantwortung für künftige Generationen – Bürde oder Verpflichtung?" Bei den folgenden Notizen fehlte die Titelangabe.
Gorden hob das Diagramm unter die Schreibtischlampe. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass die letzte Eintragung wegradiert worden war.
Er nahm Kleins Lupe aus der Ablage und versuchte die Bleistiftspuren zu entziffern. Mit viel Phantasie hätte man vielleicht das Wort Meinungsmacher darin sehen können – aber er fragte sich, ob das nicht eher Einbildung war, weil er den Titel schon kannte.
Wer auch immer sich am Manuskript zu schaffen gemacht hatte, wohl kaum Klein selbst, schien nicht zu wissen, dass bereits Gerüchte über das Buch kursierten. Er glaubte ihre Arbeit aus der Welt zu schaffen, indem er das Manuskript beseitigte und alle Spuren verwischte.
Aber Zambrini hatte von dem Buchprojekt gesprochen, und auch die Orlowsky hatte sich nach einigem Hin und Her wieder an den geplanten Sonderdruck erinnern können.
Ihr Buch existierte, wenn vielleicht auch nur noch in den Köpfen einiger Partygäste, die das alles wenig interessieren würde. Aber es war keine Einbildung ...
Nur Pamela wusste nichts davon, überlegte er. Nun gut, das war nicht weiter verwunderlich, obwohl sie in der Universität gleich neben Kleins Büro arbeitete.
Sie kannte nicht einmal Katjas Adresse – ebenso wenig wie Zambrini und die Orlowsky. Zambrini hatte Katja einmal während eines gemeinsamen Abendessens kennengelernt, das war auch schon alles. Wenn er etwas über Katja in Erfahrung bringen konnte – wie sie lebte, was sie tat, warum sie verschwunden war –, dann jedenfalls nicht durch Zambrini oder Pamela.
Gibt es hier eigentlich einen Tresor? dachte er und musterte die Wände. Kleinere Tresore waren manchmal hinter Bildern versteckt. Er ging zur Wand, die dem Balkon gegenüberlag, und nahm das Gemälde ab. Es war ein echter Nolde.
Die Leute, die das Manuskript suchten, schienen nicht an Wertgegenständen interessiert gewesen zu sein, denn sonst hätten sie das Bild sicher mitgehen lassen. Es war leicht aus dem Rahmen zu lösen.
Daraus konnte man den Schluss ziehen, dass es ihnen einzig und allein darum gegangen war, die Publikation ihres Buches zu verhindern. Auf der Kommode standen zwei wertvolle goldene Schalen, darunter eine mit Edelsteinbesatz. Arbeiten von Kleins Vater, wie man an den Gravuren am Boden sehen konnte.
Als er das Bild an seinen Platz zurückhängte, kam Zambrini herein. "Hier hab' ich was", sagte er. "Das ist doch die Handschrift deiner Schwester, oder? Er lag auf Stachus' Nachtkommode, unter den Herrenmagazinen." Er lächelte anzüglich.
Gorden nahm den Brief und faltete ihn auseinander. An die Handschrift erinnerte er sich nicht mehr, aber er war mit "Katja" unterschrieben, außerdem stand ihr Absender auf dem Umschlag. "Na, das ist doch schon was", sagte er. "Jetzt haben wir wenigstens ihre Adresse."
Lieber Stachus,
wenn Du wirklich den Gerüchten glauben willst, die über mich in Umlauf gebracht worden sind, dann muss ich Dir sagen, dass mich Dein Misstrauen tief verletzt. Ich hätte nie für möglich gehalten, wie wenig ausreichen würde, um unsere Beziehung zu zerstören. Ich dachte, dass Du mich liebst. Oder wenigstens doch ein wenig lieb hast. (Ehrlich gesagt, ich hatte mir sogar mehr ausgerechnet, die ganz große Liebe.) Aber ich hab's wohl nur an Deinen schönen Augen abgelesen, und das war ein Fehler. Mit Worten warst Du ja nie sehr großzügig.
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