Halluzinationen ... fuhr es ihm durch den Kopf. Mein Nervensystem ist außer Rand und Band. Alle Arten von Giften schienen seinen Verstand zu verwirren. Alkohol, der Geruch von Nitroverdünnung, sogar Koffein.
Er kehrte auf wackeligen Beinen zum Eingang zurück und sog die frische Morgenluft ein.
"Ist Ihnen nicht gut?"
"Danke, es geht schon wieder. Nur ein kleiner Schwächeanfall ..."
Gorden streckte tastend die Hand nach dem Torgriff aus. Er fühlte sich sicherer, als seine Finger das kühle Metall umschlossen. Dann warf er einen vorsichtigen Blick zur Decke. Sie blieb an ihrem Platz, wie es sich für ein gehorsames Stück Realität aus Stahl und Beton gehörte.
Der klaffende Riss war verschwunden. Er strich sich prüfend übers Gesicht und betrachtete seinen Handrücken. Keine Spur von Staub. Gorden, der Kämpfer, dachte er und biss entschlossen die Zähne zusammen. Dich bringen sie damit nicht ins Grab.
Da müssen sie schon stärkere Geschütze auffahren.
Er hörte, wie seine Stimme mit fremd klingendem Tonfall sagte: "Ist das da hinten der Lieferwagen Ihres Mannes?"
"Ja, merkwürdig. Ich glaube, er steht schief ... was ist bloß mit den Hinterrädern los?"
Gorden stützte sich an der Betonwand ab, während er in die Garage hinüberging. Sie musste einmal zu einer Autowerkstatt gehört haben, so aufwendige Hebebühnen gab es nur in Werkstätten. An der gegenüberliegenden Wand hing das verblichene Plakat für ein zweisitziges rotes Kabriolett mit zurückgeklapptem Verdeck, fast schon ein Oldtimer, den bulligen runden Formen und chromglänzenden Stoßstangen nach zu urteilen.
Das Mädchen am Steuer winkte dem Betrachter fröhlich zu, es hatte einen Schmollmund und hellblonde, im Fahrtwind wehende Haare. Gordens Blick wanderte langsam nach unten ... der Lieferwagen unter dem Plakat war von den Schienen gerutscht und in die Grube gestürzt ...
Er sah über den Rand auf den ölverschmierten Boden hinunter. Neben der Schachtwand stand ein aufgeklappter Werkzeugkasten, und unter der rechten Hinterachse ragte ein Arm mit Schraubenschlüssel hervor.
"Nein, er ist tatsächlich nicht verschwunden", murmelte er kaum hörbar.
Dann wanderte sein Blick zur Armaturentafel, mit der die Hebebühne gesteuert wurde. Ein Druck auf den Knopf für die Einstellung der Spurweite hatte genügt, um die Halteschienen beiseite zu fahren und den Wagen auf den Mechaniker in der Grube stürzen zu lassen.
"Ist das da unten Ihr Mann?“, erkundigte er sich. Es war eine überflüssige Frage. Im selben Augenblick, als er die reglos eingeklemmte Gestalt in der Grube gesehen hatte, wusste er, dass es nur ihr Mann sein konnte.
Und er war ebenso sicher, dass die polizeilichen Untersuchungen ergeben würden, es sei ein ganz gewöhnlicher Unfall gewesen.
Zambrinis Mansardenwohnung war ein wüstes Durcheinander aus Zirkusinventar, zerschrammten Sperrmüll-Möbeln, Plakaten, die ihn als Clown zeigten, und leeren Weinflaschen.
Dazwischen hing ein von einer gebogenen Halogenlampe angestrahltes Schwarzweißfoto, auf dem er in der Rolle des König Lear in Shakespeares gleichnamigem Stück am Wiener Burgtheater posierte – der Höhepunkt seiner schauspielerischen Karriere.
Seitdem hatte er seinen Job als Zirkusclown und Artist an den Nagel gehängt und bemühte sich nur noch um Rollen, die seinem wahren "schauspielerischen Rang" gerecht wurden.
"Was weißt du über das Verschwinden meiner Schwester, Hans?"
Zambrini trug das Kostüm König Lears, rezitierte aber aus 'Warten auf Godot', weil das, wie er behauptete, besser seiner augenblicklichen Seelenlage entsprach. Gorden erinnerte sich, schon während ihrer gemeinsamen Schuljahre in Ost-Berlin wenig Sinn für seine Kunst aufgebracht zu haben, aber jetzt, hier im Westen, machte er auf ihn nur noch den Eindruck eines Narren ohne Publikum.
"Ich habe auch erst auf der Party davon erfahren", beteuerte Zambrini. "Die Orlowsky muss es von irgendwem aufgeschnappt haben. Du warst sehr besorgt, es nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen."
"Und wie reagierte Stachus darauf?"
"Ich glaube, er war gar nicht da. Er ist kein Freund von Partys. Die meisten Leute reden ihm zuviel."
"Aber ich hatte die Orlowsky so verstanden, dass er ...?" Gorden versuchte vergeblich zwischen den beiden runden Beistelltischen mit Jonglierstäben und einem ausgestopften Seelöwen, der zwei bunte Wasserbälle über der Schnauze balancierte, einen Blick auf Zambrini zu werfen.
"Solange ich dort war, habe ich ihn nicht ein einziges Mal gesehen, und ich bin als einer der letzten gegangen."
"Dann muss sie sich wohl geirrt haben", sagte er nachdenklich.
Zambrini hielt mit dem schlurfenden Gang des Landstreichers inne, und glücklicherweise blieb er dabei genau zwischen den Tischen stehen.
"Kein Wunder bei dem Gedränge, da verliert man leicht den Überblick."
"Stachus scheint spurlos verschwunden zu sein."
"Was denn – wie deine Schwester?" Zambrini hatte die Königskrone abgenommen und sich Estragons verbeulten Hut aufgesetzt. "Sollte mich wundern, wenn das nur ein Zufall wäre."
"Ich würde mir gern mal Stachus' Wohnung ansehen. Aber das wird gar nicht so einfach sein. Er hat das Haus von seinen Eltern geerbt, sein Vater war Juwelier. Die Villa ist besser gesichert als manche Banken."
Zambrini blieb stehen und hob abwehrend beide Hände. Er wirkte so übertrieben theatralisch dabei wie immer. "Nicht mit mir, Mark. Wenn du darauf hinauswillst, dass ich mal als Zirkusartist gearbeitet habe ...?"
"Du bist doch wendig wie eine Katze. Es macht dir keine Schwierigkeiten, vom Garten auf den Balkon zu klettern. Seine Wohnung liegt im ersten Stock. Du öffnest uns von innen die Tür. Im Erdgeschoss sieht's noch genauso aus wie damals, als seine Eltern dort gelebt haben."
"Das wäre glatter Einbruch."
"Schließlich geht es um das Leben meiner Schwester, Hans. Vielleicht auch um das von Stachus. Ich muss herausfinden, was passiert ist."
"Wenn dieser Drucker wirklich wegen des Sonderdrucks beseitigt wurde, dann Gnade uns Gott. Dann sollten wir lieber die Polizei verständigen."
"Dazu fehlen uns die Beweise."
"Ich weiß nicht", sagte Zambrini. "Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei. Und wenn das Haus überwacht wird? Diese Leute sind zu allem entschlossen – falls sie wirklich deine Schwester entführt haben."
"Wie soll ich sonst in Stachus' Wohnung gelangen?"
"Such dir einen anderen dafür."
"Es muss jemand sein, der eine Regenrinne hinaufklettern kann."
"Nein, kommt nicht in Frage."
"Heute Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, Zambrini. Ich erwarte dich am Gartentor. Diesen Freundschaftsdienst bist du mir einfach schuldig. Ich werde jemanden mitbringen, der uns beim Suchen hilft."
Pamela arbeitete in der Küche. Nebenan pfiff der Wasserkessel, als er ihre Post auf den Tisch legte. Er war mit Straßenschuhen hereingekommen, und da er wusste, dass sie das nicht mochte, schlüpfte er schnell in die großen karierten Hauspantoffeln, die einmal ihrem Vater gehört hatten.
Dann nahm er das Geschenk, ein geschnitztes Holzpferd mit Ledergeschirr und Beschlägen aus Messing, ließ es aber noch im Karton, um Pamela zu überraschen.
Es würde hübsch aussehen und gut zur Einrichtung ihres Arbeitszimmers passen. Er hatte mit einer der Kreditkarten bezahlt, und dabei hatte er sich bemüht, aus dem Stegreif möglichst genau den Namen John Bertrand auf der Karte nachzuahmen.
Aber die Ladeninhaberin hatte seiner Unterschrift gar keine Beachtung geschenkt und das blaue American-Express-Formular einfach in die Kassenschublade geworfen.
Er war gespannt, was John Bertrand – falls er überhaupt existierte – beim Eingang der Rechnungen von seiner überraschenden Kaufwut denken würde, denn nach diesem Erfolg hatte er im Kaufhaus nebenan ein Paar teure Schuhe aus dunkelrotem Rindsleder, zwei Garnituren seidene Unterwäsche der Londoner Nobelmarke Sloters ' und einen silbernen Sektkübel erstanden.
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