Oder versuchte man ihn mit dieser großzügigen Geste nur ruhigzustellen? War es ein Trick, um ihn zu beschwichtigen und ihn an seine neue Rolle zu gewöhnen? Wollte man ihm vielleicht mit den Pässen, den Scheckformularen und Kreditkarten, die er in den Papieren gefunden hatte, signalisieren, dass er zwischen einem guten Leben in der Anonymität und dem Tod wählen konnte?
Wenn er die Sache richtig verstand, war man bereit, auf diese Weise für sein Schweigen zu zahlen. Ob seine Annahme stimmte, würde sich spätestens dann herausstellen, wenn man ohne Widerspruch seine Rechnungen beglich und keine Anstalten machte, die Karte sperren zu lassen.
Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass man diese Vorkehrungen nur für den Notfall getroffen hatte: für den Fall, dass er die Vergiftung überlebte.
Es muss ein Gift sein, das nicht oder nur sehr schwer nachweisbar ist, dachte er.
Er hatte das dumpfe Gefühl, mit einem Wagen gefahren zu sein, irgendwo in einer anderen Stadt.
Manchmal blitzte vor seinem inneren Auge das Bild einer nächtlichen Straße mit entgegenkommenden Autos auf …
Er sah die Lichter, die grellen Scheinwerfer, die auf ihn zujagten. Und dann verspürte er die unbändige Angst, mit seinem Wagen in den Gegenverkehr zu geraten. Das Gefühl war so übermächtig, dass er kaum noch seine Hände stillhalten konnte. Es war, als müsse er nach dem Lenkrad greifen, um es in letzter Sekunde herumzureißen ...
"Mark, was ist los mit dir ...?"
Gorden hörte Pamelas Stimme wie aus weiter Ferne. Er stand im Wohnzimmer, abwehrend die Hände erhoben, als müsse er einer entgegenkommenden Gefahr ausweichen, sie aufhalten, falls das überhaupt möglich sein würde. Seine Stirn war von kaltem Schweiß bedeckt.
"Mark ..."
Ihre Stimme, diese angenehm vertrauenerweckende Stimme, riss ihn in die Wirklichkeit zurück.
"Ich – es war ...", sagte er verwirrt, brachte aber keinen zusammenhängenden Satz heraus.
"Schon gut, es wird alles wieder gut." Sie legte ihren Arm um seine Schultern und brachte ihn zum Sessel.
"Was ist bloß los mit mir, Pamela?“, fragte er, als er sich gesetzt hatte. Sein Körper zitterte wie bei einem Anfall von starkem Schüttelfrost.
"Du sahst aus, als wenn du träumen würdest."
"Großer Gott, ich schlafe schon im Stehen. Was soll bloß aus mir werden?"
"Lass uns lieber einen Arzt rufen."
"Nein, das wäre nicht klug. Nicht in diesem Stadium. Ich muss herausfinden, was passiert ist. Ich brauche deine Hilfe, heute Abend." Er reichte ihr das eingepackte Holzpferd. "Wir wollen Stachus' Haus durchsuchen. Ich habe Zambrini dazu überredet, auf seinen Balkon hinaufzuklettern, er war mal Artist."
"Was ist das?“, fragte sie, als sie das Geschenkpapier geöffnet hatte. "Eine Waage?"
Er starrte verdutzt die hölzerne Waage in ihrer Hand an. Es war eine gleicharmige Balkenwaage mit dunkelbraun gebeizten Schalen. Über dem Mittelstab befand sich ein Ring, an dem man sie festhalten konnte, wenn sie nicht als Tischwaage benutzt wurde. "Die Verkäuferin muss sich geirrt haben", sagte er. "Ich hatte ein Holzpferd für dich ausgesucht."
"Bist du sicher, Liebling?"
"Es passte gut zur Einrichtung und hatte ein braunes Ledergeschirr."
"Vielleicht hat es etwas mit deiner Vergiftung zu tun?"
"Die Waage ...", sagte er nachdenklich. Sie schien irgendeine Bedeutung in seiner Vergangenheit zu haben. Vielleicht hatte er sich deshalb beim Geschenkkauf vergriffen? Ein Wink seines Unbewussten?
"Sie ist sehr hübsch. Ich werde sie auf den Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer stellen."
"Ich sollte sie lieber umtauschen und das Holzpferd nehmen", sagte er entschlossen. Er erinnerte sich noch deutlich an die Verkaufstheke. Im Regal hatten Holzfiguren und Messinggeräte gestanden. Ob auch eine Waage darunter gewesen war?
"Nicht, wenn wir das Rätsel lösen wollen. Kann es sein, dass sie die Waage der Justitia darstellen soll?"
Er musterte nachdenklich – fast ein wenig erschrocken – die beiden Holzschalen, sie waren mit dünnen Messingkettchen am Stab befestigt. "Hm, schon möglich. Zambrini sagte mir, ich sei vor der Wiedervereinigung in Ost-Berlin Bürgerrechtler gewesen."
"Warum sagst du das so abfällig, Mark? Dann gehörtest du zu denen, die die Wende bewirkt haben. Natürlich nur, weil Gorbatschow es politisch möglich gemacht hat", ergänzte sie.
"Ich weiß verdammt, noch mal, nicht, was ich davon halten soll", sagte er ärgerlich.
"Wir werden es schon noch herausfinden. Könnte es der Name eurer Organisation gewesen sein?"
"Ja, möglich – gute Idee. Die Waage, hm ..."
"Vielleicht findet sich ja in Kleins Wohnung ein Hinweis darauf?" hörte er Pamelas Stimme aus der Küche. Sie war hinübergegangen, um ihm einen schwarzen Tee aufzubrühen. Das Wasser im Kessel kochte schon. Kaffee machte die Sache nur noch schlimmer.
Schwarzer Tee dagegen wirkte beruhigend auf ihn, wenn er lange genug gezogen hatte, und schien seine Gedanken und Gefühle wieder in geordnete Bahnen zu lenken.
"Du wirst mir also helfen?“, fragte er.
"Weil ich schon immer etwas leichtsinnig war, wenn es um meine Liebhaber ging."
Gorden sah ihre etwas zu zierliche Gestalt mit dem dunkelblonden Haarschopf und der durchscheinend wirkenden Haut hinter der Durchreiche – sie stand genau unter dem Lampenkegel –, und ein warmes Gefühl der Sympathie durchflutete ihn bei ihrem Anblick. Es war gut, in seiner schwierigen Lage jemandem vorbehaltlos vertrauen zu können.
Bei diesem Gedanken erinnerte er sich daran, dass er nur deshalb die Dachterrasse aufgesucht hatte, weil er Pamela während seiner Besuche bei Stachus Klein schon seit langem beobachtete und in sie verliebt war, ohne ihr etwas davon zu sagen.
Das ist also der Grund, warum ich dort oben auf dem Dach mit Pamelas geblümter Sonnenliege gelandet bin, dachte er verwundert.
Wie ein Schlafwandler, als habe sein Unterbewusstsein ihn einfach und ohne weitere Umwege zu dem einzigen Menschen geleitet, von dem er Hilfe erwartete.
"Ich muss Stück für Stück meine Vergangenheit rekonstruieren, ich muss ganz von vorn anfangen, mit den einfachsten Dingen, und irgendwie habe ich das Gefühl, dass damit auch alle Fragen über Katjas und Stachus' Verschwinden beantwortet werden."
"Wenn du mir damit zu verstehen geben willst, dass es Einbruch ist?“, sagte sie und kam mit dem Tablett herein.
"Ich befürchte, es wird erst der Anfang sein."
Er probierte den Tee, den Pamela ihm eingegossen hatte, und sah sie erwartungsvoll an.
Kleins Haus machte auf ihn den Eindruck mitleiderweckender Biederkeit: Mit seinen glatten grauen Wänden und schmucklosen Balkonen war es ihm immer wie die Verkörperung des Understatements vorgekommen, das sich reiche Leute aus Angst vor Einbrechern leisteten, denn wenn man die Halle betrat, das wusste er, wurde man sich auf beinahe peinliche Weise des Wohlstands bewusst, den einzelne Menschen anhäuften.
Bevor Kleins Haushälterin das Licht löschte, sah er einen Moment lang ihren Schatten hinter dem Rollo – und beim Anblick des Fensters und der vorgebeugten Gestalt wurde er sich schlagartig wieder jener "konspirativen" Treffen in Ost-Berlin bewusst, als Katja, Stachus und er die Bürgerrechtlergruppe "Die Waage" gegründet hatten ...
Alma war dabei die Aufgabe zugefallen, drei- oder viermal als unverdächtiger Kurier nach Berlin zu fahren. Eine Arbeit, bei der sie fast den Verstand verlor.
Sie war ein armes altes Mädchen ohne Anhang mit dicken Wollstrümpfen, fleischfarbenen Liebestötern aus Angorawolle und hochgeschlossenen Kleidern.
Klein hatte es nie übers Herz gebracht, sie einfach in die Welt hinauszujagen, als seine Eltern gestorben waren, obwohl er gern darauf verzichtet hätte, sich von ihr die Schuhe putzen zu lassen. Er fand, es sei unter ihrer Würde, so niedrige Dienste zu verrichten.
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