Die Vorsitzende der Bürgervereinigung ›Brücken – heute‹ zog auf der Stelle ihr Jackett zurecht, das es gar nicht nötig hatte, nickte Olivia zu und machte sich auf den Weg. Die junge Frau sah ihr überrascht nach: »So etwas! Muss ich aber energisch gewirkt haben. Felix, habe ich sie bei einem wichtigen Thema unterbrochen?«
»Die Frage kommt ein wenig verspätet.« Die Andeutung eines Lächelns zeigte sich um die schmalen Lippen des Malers. »Tatsächlich hast du ihr zu einem erwünschten Abgang verholfen. Frau Lawrence hatte sie mit ihren Fragen ein wenig in die Enge getrieben. Wo ist Juro?«
»Genau deswegen komme ich: Er ist auf dem Weg zum Auto, ich möchte dich fragen, ob du mit uns kommen willst. Ich denke, ihr beiden solltet hier verschwinden, bevor ein Journalist euch festnageln kann.«
»Verstehe. Ich komme gern mit. Agnes, diese beiden Damen sind Freundinnen von Alexander, können sie auch mitkommen?«
»Sicher, wenn sie sofort kommen.« Und schon bahnten die vier sich ihren Weg zum nahen Parkplatz. Agnes fuhr mit ihrem Mann davon, Picard kam mit Amanda und Olivia. Sie parkten etwas entfernter.
»Warum diese Eile?« wunderte sich Amanda, während sie rasch zu ihrem Wagen voranschritt. Die Dringlichkeit der jungen Frau, hier wegzukommen, hatte sie miterfasst und sie wehrte sich dagegen.
Picard blickte wieder ganz ernst: »Agnes ist der praktische Verstand von Juro und für mich gleich mit, solange ich allein hier auf der Insel lebe. Sie wird uns den Grund schon noch sagen.«
Die Sonne stand mittlerweile tief am Horizont und die Knicks – dichte Hecken zwischen den Feldern, die den Wind brechen – warfen lange Schatten. Olivia zählte mit: Vier Dörfer durchquerten sie in rascher Folge, zwischenzeitlich hatte sie in der Ferne das Meer gesehen, jedenfalls nahm sie das an. Felix Picard lotste Amanda von der offiziellen Straße hinunter. Den Hinweis ›Durchfahrt verboten‹, der das normale Verkehrsschild zu einer strengen Warnung machte, ignorierte er. Auf einer Wiese grasten Rehe, die bei dem Motorengeräusch in den Schatten des nächsten Knicks flohen, der sie vollständig unsichtbar machte. Ein Wäldchen nahm sie auf und entließ sie durch ein Tor auf eine leere Fläche. Amanda schaltete auf Picards Bitte hin in den ersten Gang hinunter.
»Wir sind auf Gut Staberhof,« er deutete nach links, »dort das Wohnhaus und ihm gegenüber hier rechts vorn die Barockscheune, die Ernst Ludwig Kirchner gemalt hat. Wir wollen an ihr vorbei in den Weg da vorn und gleich nach links.«
Weit dehnte sich das Ackerland, es wurde von hohen Bäumen umrahmt. In der Ferne ahnte Olivia so etwas wie einen Wald, es war schön hier. Doch Felix Picard führte sie, ohne einen Blick für das Land in der einsetzenden Dämmerung zu haben, ins Haus. Und durch einen geräumigen Windfang, in dem sie ihre Jacken aufhängten, gleich wieder hinaus. So kam es Olivia auf den ersten Blick vor: Die gesamte gegenüberliegende Wand des großen Raumes bestand aus Glas und ließ den Blick in jene baumumstandene Weite frei, die ihr gerade eben schon so gut gefallen hatte. Sie stand und schaute, bis Agnes Kienhardt mit Amanda zu ihr trat.
»Es gefällt Ihnen, nicht wahr? Sie sehen ganz so aus. Dort drüben, wo die Bäume sich verdichten, ist Staberholz und etwas rechts davon hinter den Bäumen kann man um diese Jahreszeit bereits wieder die Umrisse vom Leuchtturm Staberhuk ahnen. Dort verbrachte Kirchner seine Fehmara-ner Sommer. Sie sind hier in Kirchner-Land.« Die junge Frau ließ ihre beiden Gäste schauen. Sie ging leise umher und zündete eine Kerze nach der anderen an. Juro und Felix kochten Tee und schwiegen gemeinsam.
Auf dem flachen Tisch in Olivias und Amandas Rücken war bald alles für einen gastfreundlichen Nachmittagstee zusammengetragen worden und die fünf Menschen verteilten sich auf die drei hellen Sofas. Ruhig goss Agnes Kienhardt den Tee in die fünf Schalen und reichte sie weiter. Die dritte Schale ging an Felix und mit dem Dank brach er das Schweigen.
»Agnes, du hattest es sehr eilig, aus Burgtiefe wegzukommen. Hier hingegen bist du die Ruhe in Person. Wie reimt sich das zusammen?«
Sie füllte die beiden letzten Schalen, als hätte sie ihn nicht gehört und stellte die schwere Kanne ab. Sie blieb vorn auf der Sofakante sitzen und sah auf: »Du hast Recht. Ich habe mich selbst erst einmal notdürftig beruhigt, indem ich nur ganz normale Dinge tat. Denn nach diesem Nachmittag da draußen am Strand sah ich Land unter, für uns alle. Plötzlich gab es diesen Brief, der Alexanders Fernbleiben erklärt. Die Nachricht verbreitete sich explosionsartig. Alle auf der Wiese, bei denen ich stehenblieb, sprachen in irgendeiner Weise darüber. Und dann, vielleicht eine knappe Stunde später, sprachen sie noch über etwas anderes: Ein Fremder, ein Journalist aus Hamburg, habe eine Leiche gefunden. Ich ging langsam umher und versuchte, mehr zu hören, dabei fing ich einzelne Wörter auf: Leichenteile, Jutesack, Luderkuhle und etwas, das klang wie Geocaching, als hätte es etwas mit Geographie und Verstecken zu tun. Alle spekulierten, denn niemand wusste etwas. Aber das Gerücht war da, einfach so, wie ein giftiges Gas. Da beschloss ich, euch beide dem Gift zu entziehen, bevor ihr Journalisten zum Opfer fallen könntet. Das ist alles.«
Der Schock saß. Niemand rührte sich. Felix Picard saß tief in seiner Sofaecke, die Schultern hochgezogen und leicht vorgebeugt, die Handkuppen gegeneinandergedrückt, die Augen auf den Tisch gebannt. Juro Kienhardt trank in kleinen Schlucken seinen Tee. Als er damit zu Ende war, ließ er die Arme sinken und sah seine Frau an: »Du weißt nicht, ob die Leiche Alexander ist?«
»Ich weiß gar nichts, ich habe nur von diesem Gas einiges eingeatmet. Allerdings wage ich einstweilen die Vermutung, dass es nicht Alexander ist, denn der Fund scheint ziemlich lang auf seine Entdeckung gewartet zu haben.«
»Und warum gerade heute?« grübelte ihr Mann weiter.
»Keine Ahnung. Hat irgendeiner von euch schon einmal von ›Geocaching‹ gehört?«
Amanda räusperte sich. Sie hörte endlich auf, umzurühren, legte den Löffel auf die Untertasse und stellte alles zurück auf den Tisch, ohne einen Schluck genommen zu haben. »Es ist eine Internetspiel im freien Gelände, wenn Sie so wollen. Eine x-beliebige Person versteckt einen ›Schatz‹ in einer wetterfesten Dose in der Landschaft und setzt die Stelle des Verstecks ins Internet. Jeder, der Lust zum Suchen hat und in der Nähe des Versteckes lebt, kann dessen Längen- und Breitengrad nun auf sein GPS-Gerät übernehmen, eine Kombination aus Kompass und Pilotsystem, wie man sie auch in Autos einbauen kann, mit der er zu der angegebenen Stelle fährt und mit Hilfe des Gerätes vor Ort die Feinarbeit aufnimmt. In dem einzigen Fall, dem ich zugeschaut habe, fand sich der ›Schatz‹ unter mehreren zusammengetragenen alten Zweigen, die unter dem überhängenden Ast einer Krüppelkiefer lagen. Mein Bekannter räumte die Zweige weg, zog eine alte Plastiktüte darunter hervor, in der in einer weiteren Plastiktüte eingewickelt eine festverschließbare Dose steckte, wie man sie zur Aufbewahrung von Lebensmitteln im Kühlschrank benutzt. Darin fand er zwei Schokoladenriegel, eine kleine Plastikfigur und einen Miniblock mit Stift. Er zeigte mir die zahlreichen Eintragungen von glücklichen Findern darauf, trug sich selbst mit Datum ein, legte einen weiteren Stift in die Dose und entnahm einen Schokoriegel. Dann verpackte er alles wieder so zurück, wie er es gefunden hatte, und wir gingen davon.«
»Als Kinder spielten wir Schnitzeljagd,« überlegte Agnes.
»Wieder eines dieser wunderbaren deutschen Wörter!« Einen Blitzmoment lang war Amanda begeistert.
»Diese Verstecke sind gut getarnt, nachdem, was Sie sagen… woran erkennt man sie?« wollte Agnes wissen.
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