»Dieser Blaubart, er war Fehmaraner?«
»Nein, das immerhin nicht. Er kam aus Lübeck, glaube ich, oder aus Hamburg. Er hatte ein Haus oben in Marienleuchte und kam vor allem zur Jagd hierher. Ja, und er brachte Frauen mit, die das nicht überlebten, vier sollen es gewesen sein. Deren Geld war sein Ziel, immer dasselbe. Es klappte solange, bis ein aufmerksamer Bankbeamter nicht mitspielte. Er bestand darauf, die Wertpapiere nur der betreffenden Besitzerin persönlich auszuhändigen. Der Blaubart verwies auf die Gültigkeit seiner General-vollmacht, doch der Bankbeamte beharrte auf seiner Weigerung, bis die Bank schließlich die Kripo einschaltete. So flog alles auf, nicht etwa wegen einer Frau, die Freunde oder Verwandte ernsthaft vermissten. Das fand ich immer gruselig.« Frau Nüßler schauderte es wieder bei der Vorstellung.
Leichte Schritte flogen die Treppe hinunter: »Bürgermeister Hinrichsen hat einen zweifelhaften Erfolg eingefahren. Über Alexanders Skulptur wird nichts geschrieben, nur über die Zeremonie, die nicht zufällig – natürlich – am Tag der Deutschen Einheit stattfand, worüber der Schreiberling der ›Lübecker Nachrichten‹ mehr als ausreichend Druckerschwärze verschwendet. Die Insel-Zeitung nimmt wenigstens ihre Brücken-heute-Vereinigung ernst, aber auch nur auf der Innenseite. Und alles wegen dieser Juteleiche,« empörte sich Amanda. »Dass Alexander für Fehmarn ein Kunstwerk geschaffen hat – nichts davon in den Zeitungen. Dass er verschwunden ist, ein Drohbrief eintraf, wieder nichts von alledem in den Zeitungen!«
»Was sagen Sie da?« Frau Nüßler wurde blass. »Jetzt muss ich mich doch setzen. Bitte, kommen Sie herein.« Frau Nüßlers Wohnzimmer war ganz weiß: der Holzboden die Wände und die Möbel. Olivia spürte die Helligkeit mehr, als dass sie sie bewusst sah. Sie setzte sich ihrer Gastgeberin gegenüber auf die Sofakante. »Nein, nein, nein!« verschaffte die sich noch eine kurze Verschnaufpause, bevor sie fortfuhr: »Dass Ihr Freund zur Enthüllung seiner Skulptur nicht gekommen ist, habe ich selbst gesehen. Ich war natürlich auch dort, bin dann aber ziemlich schnell wieder gefahren. Sie sagen, es gibt einen Drohbrief? Ich hörte so etwas. Es ist also tatsächlich wahr. Was steht darin?«
»›Wir haben Alexander Hyde davon überzeugt, Fehmarn nie wieder zu betreten. Vereinigung Inselschutz.‹ Haben Sie von dieser Vereinigung schon mal gehört?« wollte Amanda wissen.
»Ja, das habe ich. Aber ich habe keinerlei Vorstellung von ihr, überhaupt keine – das ist ja furchtbar!« Frau Nüßler sah betroffen von einer zur anderen. »Ich will ja nicht unken, aber es gibt schon zwei Briefe mit dieser Selbstzuschreibung und in beiden Fällen sind die dazugehörigen Menschen bis heute verschwunden. Dass die Zeitungen nichts darüber schreiben, ist ja merkwürdig…«
»Offenbar nutzt die Polizei die Aufregung über den Leichenfund, um in diesem Fall in Ruhe zu ermitteln,« Olivia fand das ganz naheliegend.
»Das kann schon sein,« stimmte Frau Nüßler zu, »die Journalisten verstehe ich nur nicht! Muss ich ja wohl auch nicht. Ich meine, ein so bekannter Künstler wie Herr Hyde, der hier zu einem ganz besonderen Ereignis erwartet wird, sogar als eine der Hauptpersonen, und dann nicht kommt, wäre denen eigentlich auch ohne Drohbrief schon Thema genug. Stellen sie sich doch vor, aus wie vielen Perspektiven man sein Verhalten zerreden könnte… Merkwürdig… hoffentlich haben die Leichenteile nichts mit den früheren Drohbriefen zu tun, denn dann… Nein, das wäre gar zu schrecklich!« energisch stemmte sie sich aus ihrem tiefen Sessel. »Langsam wird’s mir ungemütlich. Sagen Sie mir, wenn sie Neues hören, ja?«
Endlich war wieder etwas los auf der Insel… Der Umsatz im Supermarkt und in den Bäckereien stieg. Alle brauchten mehr Brot und noch eine Tüte Milch und bekamen ein Dutzend Gerüchte gratis dazu. Das Kaufhaus am Marktplatz warb mit Sonderposten von Wetterjacken, doch heute gingen die Leute eher mit Taschen voller Klatsch davon. Beim Friseur herrschte Andrang und die Läden für Segel- und Surfzubehör wurden noch einmal aus ihrem beginnenden Winterschlaf gerissen.
Amanda sah sich in der Breiten Straße um: »Verrückt, wie schnell ein Mord eine kleine Stadt beleben kann! Und wie wenig mir das alles gefällt. Gerüchte sind schrecklich, wenn man Angst hat – magst du schon wieder Fischbrötchen? Wir könnten sie mitnehmen nach Burgtiefe und uns endlich in Ruhe Alexanders neues Werk anschauen. So nah immerhin können wir ihm kommen.«
Gesagt – getan. Auf der Wiese am Wasser von Burgtiefe war nicht eine Menschenseele. Amanda atmete tief durch. Sanft fuhr ihre Hand die Stahlbögen entlang, die sich aus dem Messing des unteren Teiles des Gebildes emporschwangen. Dieses untere Teil konnte eine flache Landschaft darstellen, eine mäßig bewegte Meeresoberfläche oder… »Eleganz schlechthin,« wie Amanda feststellte.
»Schön… oder? Das Ganze ist gerade noch nicht zu abstrakt, um die Grundformen wiederzuerkennen, ich könnte zum Beispiel an unseren Regenbogen denken… jeder dieser Bögen zeigt in eine andere Richtung – bei Regenbögen wäre das allerdings ein Naturwunder. Der schlichte Menschenverstand wird die Richtung der Bögen geographisch deuten, denke ich mal, ein grüblerischer Mensch wird ihnen vielleicht Ideen zuordnen und alles stimmt zu dem, was man sieht und alles ist offen.«
Lange blieben sie dort, gingen um die Plastik herum, versuchten deren Umgebung auf sie zu beziehen und tauschten ihre Gedanken aus. »Dieses Ding ist wirklich schön!« stellte Amanda entschieden fest. »Warum vertreibt man einen Künstler deswegen von der Insel? Bitte, erklär mir das!«
»Kann ich nicht!« – Sie gingen am Wasser entlang, zügig und schweigend. Als sie den Sandstrand erreichten, wurden sie langsamer. Aber selbst jetzt reagierte Amanda weder auf den Sand noch auf das Meer. »Vielleicht könnten wir diese Fischbrötchen essen, bevor meine Finger stärker nach ihnen riechen, als Seife den Geruch vertreiben kann. Stell dir vor, ich müsste sogar im Schlaf Fisch riechen…« Olivia hielt ihr das Päckchen mit theatralischer Miene unter die Nase.
»Fehmarn – ein Albtraum…«
Sie machten einen langen Strandspaziergang unter tiefblauem Himmel. Meeresluft und leichter Wind umschmeichelten sie und gesellten der Angst um den Freund noch einmal die Hoffnung auf ein gutes Ende zu. Gestärkt kehrten sie zurück. Amanda telefonierte mit Felix Picard und erfuhr, dass die Polizei ihm und den Kienhardts einen Besuch abgestattet hatte. Sie hatten ihnen die Fragen beantwortet, so gut sie es wussten, selbst aber nichts Neues erfahren. Von den beiden Engländerinnen war nicht gesprochen worden.
»Eigentlich schade,« kommentierte Olivia diese Zurückhaltung, »so kommen wir nie zu neuen Informationen.«
»Die Polizisten waren schweigsam wie Ostseefische. Picard hat von ihnen nicht eine Information bekommen. Also wurde er auch nicht mitteilsam, geschieht ihnen ganz recht.«
»Hältst du für möglich, dass Felix Picard je mitteilsam werden könnte? Das hat immerhin mit mehr reden zu tun…«
Der nächste Tag war ein Sonntag und vollkommen informationsfrei. Olivia bekämpfte ihre aufkeimende Unrast, indem sie die Arbeit für einen Text über Alexander Hyde für ihre Essayreihe in der Süddeutschen Zeitung begann und dazu Amanda in ein langes Gespräch über ihren Freund, seine Kunst und die zugehörige Szene in London verwickelte. Sie hätte den Verschwundenen wirklich gerne kennengelernt. Endlich, der Tag war schon ziemlich fortgeschritten, unternahmen sie einen langen Spaziergang unter der Steilküste hinter Katharinenhof. Der Himmel war noch immer blau, die Luft sehr weich und das Meeresmurmeln wurde nur vom Knirschen ihrer Sohlen auf Sand und Steinen übertönt.
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