Für den 4. Dezember 1860, meldet das Pfortaer Krankenbuch N wegen „Rheumatismus“ auf der Krankenstube. J1.128
Die Weihnachtsferien verbrachte N in Naumburg. Er komponierte weiter an seinem Weihnachtsoratorium vom August 1860 bis März 1861 und gab dann den Oratoriumsplan auf, verwendete später aber mehrfach Teile daraus zur musikalischen Darstellungen ganz anderer Themen, Anlässe und Zusammenhänge. Vieles ist bei N angefangen und dann liegen geblieben. Aus den Vorarbeiten stellte er drei Instrumentalstücke her: „Heidenwelt“, „Sternerwartung“ und „Der Könige Tod“, - als Klavierphantasien zu vier Händen für die „Germania“. Im August 1861 bildete er daraus Stücke unter dem Titel „Schmerz ist der Grundton der Natur“ und 20 Jahre später taugten die komponierten Partien nochmals zur „Vertonung“ eines Gedichts von Lou von Salomé: „An den Schmerz“.
An den großen Werken der bildenden Kunst ging er [N, zeitlebens] fast achtlos vorbei, es sei denn, dass sie eine literarische oder rein stimmungsmäßige Bedeutung für ihn gewannen. Und auch das war selten der Fall [was wohl im Wesentlichen an seiner Kurzsichtigkeit gelegen haben mag]. Das Bildungsgut, das sich N in Pforta erwarb, was also ausgesprochen literarisch-humanistischer [und weitgehend unzeitgemäßer!] Natur. Er kannte die wesentlichen Autoren der Antike in ungewöhnlichem Ausmaße und hatte gelernt, sie mit der ganzen philologischen Akribie [höchster Genauigkeit, Sorgfalt] zu lesen und zu deuten [woran Zweifel anzubringen sind, weil er bei anderweitigen Übersetzungen, z.. B. aus Michel de Montaignes „Essays“ zu Ergebnissen kam, die gegenüber dem Original unglaublich weit abweichende Ergebnisse zeigten. Überdies hat N auf „seinem“ Berufs-Gebiet, der Philologie, keine Leistung erbracht, die von Bedeutung gewesen wäre.] ….. Dazu kam in leidenschaftlicher Aneignung die klassische deutsche Dichtung und ein gutes Stück der Weltliteratur, insbesondere Shakespeare [1564-1616] und [Lord] Byron [1788-1824 - Näheres dazu später] J1.78
Ein weiteres Urteil über Ns Verhalten, das sich besonders auf die Zeit seiner Ausbildung in Schulpforta bezieht, lautet aus Sicht der offiziellen N-Verherrlichungsperspektive durch Paul Janz jedoch erstaunlich nüchtern:
Im Allgemeinen hielt N sich [was ihm weitgehend angedichtet ist] abgesondert und in den Leibesübungen imponierte er den anderen auch nicht besonders [im Gegenteil]. Wohl entwickelte er sich [mit einiger Verzögerung] bald zu einem guten Schwimmer, der alle Bedingungen erfüllte, aber beim Turnen hinderte ihn seine Kurzsichtigkeit und die Neigung zu Blutandrang zum Kopfe [auf welche Weise seine Neigung zu Kopfschmerzen aus verschiedensten Anlässen vordergründig benannt wurden und eine leidlich vertretbare Erklärung fanden]. Das übliche Schauturnen bei Festen erschien ihm als »Tierquälerei« und »furchtbar langweilig«. Da er sich in den ersten Jahren außerdem überaus brav allen Vorschriften fügte und wiederholt Primus war, mochten manche ihn auch noch für einen Streber halten. Alle wurden jedenfalls nicht recht klug aus ihm. Die verschwiegene [„herrscheramtlich“ begründete] Hoheit seines Wesens führte auch hier wieder entweder zum Spott oder zu befremdeter Scheu. »Seine Gleichgültigkeit gegen die kleinen Interessen der Kameraden«, schreibt Deussen, »sein Mangel an esprit de corps [Gemeinschaftssinn], wurden ihm als Charakterlosigkeit ausgelegt und ich erinnere mich, wie eines Tages ein gewisser M. [Guido Meyer? der noch auftreten wird, am Rande] auf dem Musengang im Schulgarten in diskreter Weise zum Gaudium der Umstehenden einen Hampelmann produzierte, welcher aus einer Photographie Ns ausgeschnitten und hergestellt war. Zum Glück hat mein Freund nie etwas davon erfahren.« J1.82 u. PDL.73
Ns „verschwiegene Hoheit“ wurde hier hervorgehoben. Sie beruhte auf seinem der Turmeshöhe der Schönburg zu dankendem „Herrscheramt“. Und natürlich wurde seitens der N-Anbeter mit „passenden“ Worten den „kleinen Interessen der Kameraden“ der Anschein des vergleichsweise Unbedeutenden zugewiesen. Die Selbstverständlichkeit in der Anwendung dieses „Zweierleimaßes“ in der Darstellung Ns - gegenüber „dem Rest der Welt“! - stellte einen psychologischen Reflex dar, welcher N davor schützen sollte, sich mit dem, was Ihn so „hervorhob“, logisch auseinandersetzen zu müssen. Eine Erklärung für die vielen zerrissenen Hosen ließ sich auf diese Weise umgehen und kam nicht vor. Warum sind die Interessen der Kameraden so „ klein “ zu nennen? Und warum Ns Verschwiegenheit, seine Reserviertheit so „ hoheitsvoll “? Hier ging es um die ästhetizistisch motivierte Heraushebung der Ausnahme gegen mehrheitlich Übliches, - rückwirkend geurteilt, denn Jung-N hat sich - außer ein in bestimmten Fächern als sehr guter Schüler, und deshalb Primus, zu sein - noch keinerlei nennenswerte Verdienste erworben! Sein zuletzt noch auf der Kippe stehendes Abitur hat er gegenüber seinen Kameraden nicht vorzeitig abgelegt. Hier findet sich das, was man nach Ns geistiger „Umnachtung“ in ihm sehen wollte , auf seine Anfänge zurückprojiziert und im Zuge einer gewissen Ästhetik, die gerne, wie bei vielen Sammlern, das Faktum der Seltenheit hoch bemisst und findet - wie auch bei N immer wieder! - dass es „von besonderem Wert sein müsste“ und schon „in den Anfängen“ feststellbar wäre, - ohne das davon zur Zeit des Geschehens wirklich etwas zu bemerken war.
Nüchtern und unbelastet von einer vorgefassten Meinung, ist hier sicher in Manchem ein Außenseiter zu erkennen, aber völlig offen bleibt doch: Aus welchem Gründen N als solcher erschien! N hatte - erhebliche! - Schwierigkeiten sich anzuschließen, weil er seelisch und gefühlsmäßig extrem wenig mit „den Anderen“ teilte und zudem dem Funktionieren seiner Besonderheit eine nicht unbeachtliche Wertschätzung verlieh: Er brauchte für das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, schließlich dauerhafte Bestätigungen! Der „geistige“ Austausch mit „den Anderen“ lässt sich in diesem, so wie im vorigen Jahr, brieflich so gut wie ausschließlich nur mit der Mutter und Wilhelm Pinder nachvollziehen. Alle anderen, „Freunde“ wie Mitschüler, die es in reicher Zahl gegeben hat, haben - bis auf die ja nicht durch Ns Einsamkeit zerrissenen und verschlissenen Hosen! - so gut wie keine feststellbaren Spuren in Ns seelischen Befindlichkeiten, die er zu „Philosophie“-Bestandteilen zu machen liebte, hinterlassen.
1861: Der erlebte Lebenssinn durch Ralph Waldo Emerson
Viktor Emanuel II. wurde König des vereinigten Italien (außer Rom und Venedig). In Russland wurde die Leibeigenschaft für ca. 45 Millionen Bauern aufgehoben. In England gab es tägliche Sturmwarnungen und Wettervorhersagen aufgrund von Wetterkarten. In Paris wurde eine Aufführung von Richard Wagners „Tannhäuser“ ein Misserfolg. Der Urvogel „Archäopteryx“ kam als Zwischenglied zwischen Reptil und Vogel als Abdruck auf Solnhofer Platten zutage.
Am 14. Januar schrieb N seinen Naumburger Freunden Gustav Krug und Wilhelm Pinder:
Liebe Freunde. Nun sind die schönen Tage wieder vorüber, wo wir uns länger und häufiger sprechen konnten, vorüber die Zeiten, die in der Erwartung so hoffnungsvoll, in der Erinnerung so trostreich sind [das war gekonnt formuliert und barg ein geschicktes Überspringen der verhassten „Jetztzeit“ zwischen der erinnernd veredelten Vergangenheit und der mit illusionären Hoffnungen überladenen Zukunft! N versteckte hier - ohne es seine späteren Leser spüren zu lassen - das im Grunde Wichtigste: das Verschweigen der als „wertlos“ erachteten Gegenwart, was in den folgenden Zeilen seine Bestätigung findet:] ….. Denn was sollte ich von meinem jetzigen Leben berichten? Dass wir viel zu tun haben? Dass die Arbeit noch durch Feriengedanken gestört wird? Dass die Zeit für Lieblingsbeschäftigungen gering, ach leider! zu gering ist? Das habt ihr ja alles schon selbst erfahren und erfahrt es noch. Weshalb sollte ich da noch euren Missmut vergrößern? Fürwahr, es ist doch viel angenehmer aus dem tyrannischen Reich des Zwangs in die Gebiete des freien Willens [in eine so schön vorgestellte „Parallelwelt“ in der ohne selbstkritischen Bezug auf die Wirklichkeit alles Denkbare möglich schien!] zu flüchten.
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