Unter dem am 30. Januar 1861 erfolgten Eintrag ins Pfortaer Krankenbuch ist nach der Feststellung „Rheumatischer Hals- und Kopfschmerz“ fortsetzungsweise vermerkt „reist am 17.2. als Rekonvaleszent nach Hause (Naumburg)“; J1.128Man war auf der Krankelei gegen einen so hartnäckigen Kopfschmerz mit dem Latein an Ende: Um lediglich eine ’’Erkältung“ wird es sich kaum gehandelt haben, zumal N ohnehin leicht zu Kopfschmerzanfällen neigte und diese trotz gewisser, aber weitgehend ratloser Gegenbehandlungen wochenlang anhielten - immerhin vom 19.1. bis 17.2., so dass es ratsam schien, N zur Genesung erst einmal auf gut Glück nach Hause zu „entlassen“.
Ende Februar hieß es in einem Brief an die Mutter:
Liebe Mamma! So bin ich denn glücklich in Pforta wieder angelangt. Es war sehr hübsch, dass mich Wilhelm und Gustav begleiteten; wir haben uns sehr hübsch zusammen unterhalten ….. - Meine Kopfschmerzen sind nur ein paar Mal wiedergekehrt; es wird schon gehen. Ich habe freilich sehr viel nachzuholen. Schicke mir nur ja alles. Habe ich vielleicht sonst noch was zu Hause gelassen? [was bei Ns Schusseligkeit in diesen Dingen offenbar nicht sicher war!] Grüße Lisbeth viel Mal von mir! Adieu! Es war doch sehr hübsch in Naumburg! ….. Mit dem Arbeiten will es heute Morgen noch nicht recht gehen, die Kopfschmerzen haben sich wieder eingestellt. Ich muss mich allmählich daran gewöhnen. Nun adieu! Liebe Mamma! Dein FWN.
Die intensive Manie, sich dauernd etwas schicken zu lassen, verrät auf lange Sicht umso mehr, dass N so gut wie keinen Drang verspürte, sich unabhängig zu halten und dass der „ Wille zur Selbstverwaltung “ bei dem inzwischen 15½-jährigen N kaum vorhanden war. Er dachte an nichts, sorgte nicht vor, hatte seine Sachen nicht beieinander, versorgte sich nicht selbst, sondern ließ sich bedienen. Erziehung? Übliches Verhalten für Internatszöglinge? Er hat sein Leben lang andere Menschen seine persönlichen Dinge verwalten lassen und neigte seinem Temperament nach wohl dazu, andere für ihn sorgen zu lassen.
Am 5. März 1861, einem Dienstag, schrieb N, wieder ganz im alten Fahrwasser der eingefahrenen Gewohnheiten an die Mutter:
Ich bin am Sonntag ganz wohl bei nicht so großem Sturm, wie ich glaubte, vor 10 [Uhr] in Pforta angekommen, nachdem ich zuvor bei Mannsbachs durchaus noch eine Tasse Tee trinken musste. Montag habe ich nun ordentlich gearbeitet, denn unsre Examenszeit [zum Abschluss des Wintersemesters] hat nun angefangen. Wir haben das Thema Jäger- und Fischerleben zu behandeln; ich habe es früher schon einmal in Naumburg ausgearbeitet. Bitte sende mir ja morgen Mittag [er kam doch gerade von dort!] mein deutsches Arbeitsheft, es liegt im Bücherschrank im dritten oder zweiten Fach von unten herauf. Lisbeth wird es schon finden. - Wir haben doch den Sonntag sehr hübsch zusammen verlebt [ohne vorsorgende Gedanken daran, was er in den nächsten Tagen für seine Examensarbeiten brauchen würde!] und wie lange wird’s dauern, da bin ich wieder bei euch. Wenn nur erst die Examenswochen glücklich überstanden sind! Kannst du mir nicht ein paar Schokoladentafeln senden, damit ich wieder früh etwas Milch trinken kann? Sie ist jetzt sehr schlecht und da muss man so etwas haben; denn ganz nüchtern zu bleiben, wie ich es jetzt eine lange Zeit getan habe, ist gar nicht angenehm. Du würdest mir große Freude bereiten …..
Im März 1861 begann N, für dessen Genialität die Examina alles andere als Selbstgänger waren, ohne exakte Datumsangabe, aber wohl Anfang des Monats, ein neues „Notizbuch FWN alumnus portensis (Naumburg)“ BAW1.244, mit „Friedrich Wilhelm N, Zögling der Landesschule Pforta“ überschrieben. Es war ein Oktavheft, in einen braunen Deckel gebunden und enthält durchmischte Notizen, die sich nach sehr wenigen Seiten schon auf Ostern bezogen, das in dem Jahr auf den 31. März fiel und sich natürlich auch mit den dazugehörigen Ferien befassten. Die „Eröffnung“ dieses „Notizbuches“ dürfte also etwas früher liegen. Auf wirklich sonderbare Weise enthält es kein einziges Wort über die gerade mal drei Wochen vor Ostern, am Sonntag „Laetare“, den 10. März 1861 begangene - erfolgte oder auch nur durchgestandene? - Konfirmation ! Dieses Ereignis wurde „zuhanden seines eigenen Seelenlebens“ regelrecht unterschlagen, - als bedeutungslos? vielleicht gar peinlich? Seiner erlebten und folglich ernüchternden Tatsächlichkeit wegen? N schwieg sich aus - auch sich selbst gegenüber?! - über diese doch sehr kirchliche Angelegenheit, die ihm ein Jahr zuvor „in Wilhelm Pinders Namen“ gewissermaßen, so bedeutungsvolle Worte entlockt hatte, - aber in ihm selbst nichts übrig ließ.
Stattdessen notierte N als Erstes im neuen „Notizbuch“ ein ihm etwas wert zu sein scheinendes und der Diktion nach kaum von ihm stammendes „Gedicht“:
Stolz ist der Pfau und stark der Elephant
Die Wolfsschlucht graus und wild
Der rheinische Hof pikant
Am Felsen harrend sitzt die Loreley und singt
Bis traute Sänger ihr die braune Flut verschlingt.
Danach folgen Notizen zu Szenen um die Figur des während der Völkerwanderung nach 238 n. C. nördlich des Schwarzen Meeres angekommenen Ost-Gotenstammes und dessen erstem und zugleich letztem historischem König „Ermanarich“, gestorben 376 n. C., der es N derart angetan hatte, dass er sich veranlasst sah, kurze Fetzen Dialoge und Handlungen und Personenaufstellungen zu entwerfen. Nach beiläufig scheinenden erstmaligen Buch-Erwähnungen, und zumeist englischen Personnagen, darunter auch „Byron Edinburgh“ mit Preis, folgen drei Zeilen im Zusammenhang zur Edda, deren Bekanntschaft er gerade gemacht zu haben schien - oder gerne noch machen wollte? - „Edda, übersetzt von Simrock, 2 Teile“ lautet davon die letzte , wie zur Erläuterung beigegebene Zeile.
Vor dieser Zeile stehen zwei - nicht rein zufällige sondern im Gegenteil, absolut typisch für N! - zwei der Edda entnommene „altnordische“ Worte - und nur diese! Nicht unter anderen, sondern vollkommen allein : „Aham“ und „ahamkara“. Das Erste bedeutet auf Deutsch „Ich“, das Zweite „Ichheit“. Ausgerechnet diese beiden Worte der Edda hatten es N dermaßen angetan, dass er sie seinem Notizbuch einverleibte. Sie müssen ihm besonders nahe gegangen sein! Weshalb hätte er sie sich sonst notieren sollen? Für das oftmals autistisch wirkende Gebaren Ns dürfte als typisch anzusehen sein, dass er sich aus der an absonderlichen Ereignissen so übervollen Edda gerade diese beiden Worte als bemerkens- und behaltenswert notierte! Nur um sie vor seinem Vergessen zu bewahren? Sie waren für ihn, für sein Ich und seine Ichheit von ausnehmender, persönlich zu nehmender Wichtigkeit, deshalb schrieb er sie auf, - denn seine Notizbücher waren ausschließlich für das angelegt, was ihm für seine stark oder sogar nur von Gefühlsmäßigem angesprochene Person als bedeutungsvoll und langfristig bewahrenswert erschien.
Während der Osterferien in Naumburg trug N in dieses kleine „Buch“, ein Oktavheft, mit Stundenangaben von morgens 9 bis abends 9, seine täglichen Beschäftigungen ein oder plante er diese nur? Für einen Montag z.B.: 9-11 komponieren Schluss von Mariae Verkündigung; 11-12 Spazierengehen; 2-3 Klavierspiel. Beethoven d-moll [was sicherlich nicht auf die in dieser Tonart stehende 9. Sinfonie weisen sollte! - oder doch?]; 3-7 Zusammenkunft bei Gustav Krug; 8-9 Deutsch „Die Kindheit der Völker II [einen ersten Aufsatz dazu hatte er kurz zuvor im Umfang von gut 8 Druckseiten bereits beendet. Das Thema taucht später nicht wieder auf. Nach weiteren 7 Tagen, in deren Reihe der Sonntag fehlt, folgen Eintragungen - wieder wohl seine Absichten betreffend! - zur „Germania“:]
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