Da klang N recht entschlossen, mehr als zuvor, volltönend gewissermaßen, überzeugt und überzeugend. Das Thema ist dagegen bekannt und schon dagewesen. N hatte es vor fast zwei Jahren schon einmal in der prometheusnahen Gegenüberstellung von göttlicher und menschlicher Freiheit anklingen lassen. Jetzt tauchte es in Form von „Zwang“ gegenüber der „Entfaltung des freien Willens“ wieder auf. Dahinter stand recht unverändert der Widerspruch zwischen dem, was man tun muss gegenüber dem, was man tun will , möchte und kann . Mit anderen Worten ging es um die zu berücksichtigenden, in vielfachen Ausprägungen und Erscheinungsformen aus der Umwelt erwachsenden Notwendigkeiten gegenüber der „freien“, von Widersprüchen grenzenlos befreiten Entfaltung des eigenen, empfindsamen Ichs und seiner leicht bedenklich sein könnenden „Gültigkeit“. Zu bedenken dabei ist, dass N dieses „Problem“ in Verbindung brachte mit dem ihm aus seinen Gefühlen zugekommenen Wort „flüchten“. Mit diesem verriet er unfreiwilliger weise die psychologisch bedingte Motivation seines auf „Ausweichen“ gerichteten Gedankenflusses. In seinem Brief fuhr er fort:
Ohne weitere Umschweife will ich deshalb mich zu dem Stoff wenden, der jetzt eure Aufmerksamkeit kurze Zeit fesseln möge [denn die Freunde sollten seine Probleme wälzen; - das verstand er unter „Gemeinsamkeit“]. Dieser Stoff betrifft die Umgestaltung des Oratoriums [N beschäftigte sich komponierend gerade mit einem solchen! - und über dieses, sprach er von sich!]. Wenn man bis jetzt [eine immer wiederkehrende Wendung, die instinktiv „bis zu ihm hin“ - dem ihm wichtigsten Punkt in der Weltgeschichte! - bedeutete, - also bis hin zu seiner Erkenntniskraft! - nicht gedacht, aber gefühlt und gemeint war! Hier begann er, in einem frühen Ansatz, sein „ ab dann“ beibehaltenes „ Umwertungs spiel“, seine „Masche“ und sein Trick, aus der „Machtfülle“ seines von den Zinnen der Schönburg, 1858, stammenden „Herrscheramtes“ heraus neue Werte und Bewertungen sowohl setzen zu können als auch zu müssen ! Wenn man also bis jetzt ] immer geglaubt hat, das Oratorium nehme in der geistlichen Musik dieselbe Stelle ein, wie die Oper in der weltlichen, so scheint mir dies unrichtig, ja eine Herabsetzung zu sein. An und für sich ist schon das Oratorium großartig einfacher, ja so muss es als erhebende und zwar streng religiös erhebende Musik sein.
Bereits nach wenigen Sätzen war es N da auf recht einleuchtende Weise gelungen, argumentierend innerhalb seines Themas - bei dem also, worum es ihm gegangen war! - so wie lebenslang gegenüber den aufgrund seiner Art und seinem Umgang von ihm eingenommenen Menschen! - auf das „Erhebende“ zu kommen, - also zügigst den ausschließenden, für ihn wichtigsten Punkt, nämlich den des beurteilend „Besseren“, Heraushebenden, Adelnden, den Zustand des Nicht-Gewöhnlichen, der Überhöhung als den ihn faszinierenden „Ausnahme-Zustand“ in seinem Leben, zu erreichen. Das Wort „erhebend“ kommt gleich zwei Mal in einem Satz vor: Erhebend! Als Argument! - Vollkommen gefühlsbedingt! Im Gegensatz zur schalen, langweiligen, unattraktiven, jetztzeitigen Gewöhnlichkeit : Es entsprach als ästhetizistisches Element seinem gefühlsmäßig erfolgenden Bedarf zu werten :
So verschmäht das Oratorium alle andern Mittel [ tut es das in der behaupteten Ausschließlichkeit?], deren sich die Oper zur Wirkung bedient; es kann von niemand für etwas Begleitendes, wie die Opernmusik doch für die Menge noch ist, gehalten werden [aber wieso und warum? Die Musik des Oratoriums begleitet doch den liturgischen Text!]. Kein andrer Sinn wird hier erregt außer dem Gehör [und der religiösen, glaubensgebundenen Empfindung !]. Auch ist der Stoff unendlich einfacher und erhabener [nochmals dieses Wort, leicht abgewandelt zum 3. Mal], ja großenteils ist er [der Inhalt! - aber nicht unbedingt und in jedem Fall!] bekannt und allen, auch dem ungebildeten [selbst bei oft lateinischen Texten?] ohne Mühe verständlich. Deshalb glaube ich, steht das Oratorium in seiner Musikgattung höher, als die Oper.
Wozu brauchte N diese auf Ausschließlichkeit zielende, absolut unnötige Wertung ? Warum konnte N das Eine nicht gleichwertig neben dem Anderen stehen sehen und ertragen? Ganz schlicht und einfach als ebenso gut aber anders !? Wer hatte etwas davon, dass das Eine „höher“ als das Andere gelten sollte? Warum polarisierte N hier, wertend und „Ordnung“ schaffend mit seiner Meinung? Um seine eigene Vorliebe zum Gesetz hoch-zu-argumentieren? Er begann hier, in und mit dieser unscheinbar kleinen und vielleicht auch belanglosen Gegenüberstellung, das, was er sein Leben lang „moralisierend“ argumentierend betreiben sollte: Mit allem Nachtdruck entschied er hier schon - kaum dass man es merkt ! - ohne stichhaltige Gründe : Lediglich nach seinem Empfinden und seinem Führ-Richtig-Halten, - ungeachtet der Tatsache, dass sich das auch sehr anders betrachten ließ:
Deshalb, glaube ich, steht das Oratorium in seiner Musikgattung höher als die Oper, indem es also in den Mitteln einfacher, in den Wirkungen unmittelbarer ist und seiner Verbreitung nach wenigstens allgemeiner sein sollte [fraglos lag darauf die Betonung: „Sein sollte “! - es sollte so sein, wie er es für richtig hielt: Sein „Herrscheramt“ und das Bestimmen, wie es „sein sollte“ gingen hier Hand in Hand, - als ein und dasselbe!]. Wenn letzteres nicht so ist, so muss man die Ursachen nicht in der Musikgattung selbst, sondern teils in der Behandlung teils in dem geringen Ernst unsrer Zeit suchen [auf alle Fälle aber einen „Schuldigen“ dafür finden! - Nur nicht da, wo die „Schuld“ eigentlich lag: Nämlich in N s , sehr persönlich gefärbter Auffassung, zu der man mit gleicher, rein ästhetisch grundierter Berechtigung, auch eine sehr anderer Meinung haben konnte: Abhängig nur davon, wie gut komponiert das Ganze jeweils ist - Oratorium, Oper, Lied oder was auch sonst auch! - Denn die Hauptsache bei dem Ganzen war, dass N - gegen den Rest der Welt! - etwas für ihn - im Moment gefühlsmäßig geltendes! - grundsätzlich fest- und richtiggestellt hatte!] …..
Nächstens werden wir ja uns auch gegenseitig unsre [lt. „Germania-Satzung“ verpflichteten] Januarsendungen schicken, von Wilhelm empfange ich vielleicht auch noch eine verspätete Dezemberlieferung. Schreibt mir doch recht bald einmal: ich sehne mich so nach einem Brief, da ich so abgeschlossen und getrennt von euch bin. Sonst wünsche ich, dass es euch immer recht wohl geht und ihr auch mitunter an euren Freund in Pforta denkt. Semper nostra manet amicitia [ewig dauere unsere Freundschaft].
Umgehend erfolgte darauf die Antwort; zuerst, am 15. Januar 1861, schrieb Wilhelm Pinder seinem Freund in Pforta:
Lieber Fritz! Welche unverhoffte Freude als wir heute aus der Schule nach Hause kamen und deinen lieben Brief fanden! Ich habe mich deshalb auch gleich hingesetzt, um Dir dafür zu danken und mich etwas näher über denselben auszusprechen, denn Du hast uns so viel Interessantes, so viel Neues und Wahres [die Freunde Überrumpelndes!] darin mitgeteilt, dass die Sache wohl eines tieferen Eingehens wert ist. Ich habe mich mit Gustav [dem musikalisch Erfahrendsten und Praxisbeschlagensten von den dreien] schon über den von Dir behandelten Gegenstand [der Um wertung Oratorium/Oper] gestritten. Er ist [als der eigentliche „Fachmann“ in Sachen Musik!] nicht ganz deiner Ansicht, während ich Dir völlig beistimme [was für das „Innenverhältnis“ unter den Dreien nicht nur typisch, sondern ebenso für die weltweite Anerkennung Ns bezeichnend ist!] und, so weit ich es verstehe [denn gerade darin lag der springende Punkt!] deine Meinung für die richtige halte …..
Читать дальше