Lieber Fritz! Du wirst gewiss sehr böse sein, dass ich Dir so lange nicht geschrieben habe, doch mancherlei Hindernisse standen mir im Wege. Wir haben nämlich sehr viel für die Schule zu arbeiten ….. [Er berichtete von Musikalien-Geschenken zu seinem Geburtstag, sehr umsichtig und ausführlich; von geliehenen Noten, u.a. dabei von Wagners Lohengrin ; von einer Leipziger Aufführung des „Weihnachtsoratoriums“ von Johann Sebastian Bach am Anfang des Monats und kam danach auf eine Komposition von N:]
Ich will auch hier gleich Deines Oratoriums gedenken. Da Du wegen des Textes in Verlegenheit bist, kannst Du ja einiges aus dem Bach’schen Texte entlehnen, zu Weihnachten, wenn wir uns sehen, will ich Dir recht gern den Text zu Bachs Weihnachtsoratorium geben. Was Deine Komposition anbetrifft, die Du mir geschickt hast, so will ich hier auch einiges davon erwähnen. Der Anfang des Chores ist ganz gut, nur will mir nicht recht der Übergang im 4ten und 5ten Takt gefallen, späterhin kommen einige Anklänge an Berlioz. Die Stelle, wo das Orchester wieder nach dem Chore einfällt, gefällt mir gut, sie hat etwas Hirtenmäßiges, was Du wohl gerade hier beabsichtigt hast. Die Stelle, wo dann der Chor zum 3ten mal einfällt, gefällt mir am besten in dem ganzen ersten Chor.
Die Melodie, die im 2ten Chor, vom Orchester am Anfang pp [sehr leise] vorgetragen wird, gefällt mir sehr, sie hat etwas Wagnersches. Die kurze Fuge, die dann folgt, gefällt mir noch ganz gut. Willst Du nicht vielleicht das nächste Mal eine Arie schreiben? Ich glaube, es wäre besser, wenn Du Dir vorher einen Text machtest und nicht erst komponiertest. Es ist sehr schwer, einen Text später unterzulegen, der mit dem Charakter des Stückes übereinstimmt [das Thema Wort/Musik und welches der bestimmende Teil wäre bekommt zwischen N und seinem später dann besten und zugleich musikalischen „Freund“ Peter Gast noch einmal Bedeutung!] ….. Das Rezitativ [im Sprechgesang vorgetragene, vom erzählenden Wort bestimmte Passage in Oper, Operette und Oratorium] ist im Allgemeinen doch etwas sehr mangelhaftes, wodurch niemals Gefühle in der Musik ausgedrückt werden können. Es ist ohne Charakter und unterbricht nur den musikalischen Fluss. Deshalb ist es am allerbesten, es bei Seite liegen zu lassen und eine andere Kompositionsart anzunehmen. Wagner hat dieselbe in Tristan und Isolde angewendet und hat dadurch einen wesentlichen Fortschritt im Gebiete des musikalischen Dramas gemacht. Es würde zu weit führen Dir hier die neue Kompositionsweise auseinanderzusetzen.
Zu Weihnachten, wenn mein Papa sich den Klavierauszug von Tristan und Isolde hat kommen lassen, will ich es Dir zeigen [aber der Klavierauszug zu dem im August 1859 fertiggestellten „Tristan“ zog sich hin] ….. Einiges über Tristan und Isolde will ich noch erwähnen. Zu Michaeli [dem Tag des Erzengels Michael, jeweils am 29. September] ungefähr stand der erste Bericht darüber in der Musikalischen Zeitung, als die Partitur - die 36 Taler netto kostet - erschienen war. Zuerst war in einer Nummer ganz allein nur über die Einleitung geschrieben, die dabei in einem großen Teil abgedruckt war, und die wirklich, ohne aufzuschneiden, noch schöner als die zu Lohengrin ist. Wagner hat diese Oper viel thematischer und kontrapunktischer ausgearbeitet, als seine früheren. Man sieht dies auch in der Einleitung, in der die verschiedenen Motive auf das schönste miteinander verwebt sind. Beim ersten Hören freilich entgehen einem manche Schönheiten und manches kommt uns sogar sonderbar und hart vor, doch bei mehrmaligem Anhören verschwindet dies alles und man findet dass alles auf das schönste motiviert ist. Die Einleitung soll den Seelenzustand von Tristan und Isolde in Tönen ausdrücken, die Liebe, die beide zerfrisst.
Die Einleitung geht gleich in die erste Szene über, die auf dem Schiffe spielt, das Isolde zu König Marke, der zu ihrem Gemahl bestimmt ist, führen soll. Bis jetzt ist in der musikalischen Zeitung nur über die ersten 3 Szenen berichtet, die 4te wird in der nächsten Nummer analysiert werden ….. Ich hoffe, dass mein Papa sich zu Weihnachten den Klavierauszug der übrigens 10 Taler kostet, zur Ansicht kommen lassen wird. Dann will ich Dir alles aufs Genaueste zeigen.
Das waren, durch die leidenschaftliche Begeisterung von Gustav Krug, die ersten Informationen, die über Wagners „Tristan und Isolde“ bis zu N hin drangen.
Über eine wichtige Angelegenheit habe ich Dir noch zu berichten. Es ist dies die Anschaffung der [Germania-]Noten zu Weihnachten ….. Ich schlage nicht mehr das Liebensmahl der Apostel von Wagner vor ….. Hingegen schlage ich Dir ein wirklich vorzügliches Werk vor, das von allen Seiten als sehr bedeutend geschildert ist, es ist dies ein Werk von Schumann Op.115 Manfred. Dramatisches Gedicht in 3 Abteilungen von Lord Byron, Klavierauszug 3 Taler. Mit Rabatt 2 Taler. Die Musik wird für das bedeutendste Werk von Schumann gehalten. Da wir bloß 1 Taler 15 Silbergroschen zur Verfügung haben, so würde ich [den Satzungen der „Germania“ entsprechend] die noch fehlenden 15 Silbergroschen bezahlen [damit scheint festzustehen, dass die für N wesentliche Bekanntschaft mit der Schumann’schen Manfred-Komposition ebenfalls über die Vermittlung von Gutav Krug erfolgte!]. Schreibe mir so bald als möglich Deine Meinung ….. Die nächste monatliche [lt. Germania-Satzung fällige] Sendung werden wir wahrscheinlich Dir später schicken oder erst zu Weihnachten geben können ….. Was wünschst Du denn Dir zu Weihnachten? ….. Ich freue mich sehr auf Weihnachten, wenn wir uns wiedersehen ….. Behalte lieb Deinen Gustav Krug
Gustav Krug war der mit deutlichem Abstand musikalische Kopf unter den dreien und N segelte im Schlepptau zu dessen Wagnerbegeisterung mit. Gustav Krug schrieb nicht, wie N über sich , sondern über das, was ihn begeisterte , sachkundig, lebendig und umsichtig. Er hatte immer ein Thema . N hatte als Thema immer nur sich! Aus der einfachen Tatsache übrigens, dass Gustav Krug N darüber berichtete , dass er ungeduldig auf das Weihnachtsgeschenk für seinen Vater - den teuren, neu erschienenen Klavierauszug von Wagners „Tristan und Isolde“, an diesem teilhaben könnend, wartete ! - Aus dieser Tatsache machte N, achtundzwanzig Jahre später, in dem letzten seiner vielen „Lebensrückblicke“, Selbstbespiegelungen und Selbstdarstellungen, letztmals unter dem Titel „Ecce homo“ [seht welche ein Mensch!], - im Kapitel mit dem Titel „Warum ich so klug bin“, sein unehrlich um des Effektes willen aufgedonnertes:
„Alles erwogen, hätte ich meine Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnersche Musik. Denn ich war verurteilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig. Wohlan, ich hatte Wagner nötig. Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche par excellence [schlechthin], - Gift, ich bestreite es nicht … Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab - mein Kompliment, Herr von Bülow [1830-1894, Pianist, Dirigent der Uraufführung des Tristan im Jahr 1865 im Münchner Hof- und Nationaltheater in München und u.a. beteiligt an der Herstellung des Klavierauszuges]! - , war ich Wagnerianer. Die älteren Werke Wagners [von denen er damals, 1860, keines wirklich kannte] sah ich [in gewohnt dünkelhafter Ausschließlichkeit!] unter mir ….. 6.289
Das früh schon eingeübte „Oben“ und „Unten“ war vor allem dramatisierende Pose: Inszenierung seiner selbst, - und hieß für ihn „Wahrheit“, - denn diese war stets bei ihm ! So war er bereit „sich“ darzustellen und „zu verkaufen“; immer von oben herab! Hier zeigt sich deutlich der Unterschied zwischen seinem Wahn und seiner Wirklichkeit. Auch hier ging es um den „Effekt“, den die Art der Formulierung machen sollte, nicht um die Wahrheit, wie es um die Dinge wirklich stand!
Читать дальше