Am 17. März 1860 schrieb N an Wilhelm Pinder in Naumburg, neben Mutter und Schwester mit Riesenabstand seinen Hauptadressaten in jener Zeit:
Lieber Wilhelm! ob ich schon hoffe, dich morgen länger zu sehen und zu sprechen, so möchte ich dir doch noch heute am Tage vor deiner Konfirmation ein paar Zeilen senden, vor allem, um dir zu sagen, dass ich in dieser Woche besonders viel an dich gedacht habe und im Geiste bei dir gewesen bin. Du lebst ja jetzt in einer ernsten Vorbereitungszeit, wo alle Gedanken und Sinne nur auf das Eine, [was ihm zu der Zeit also eine Form von Superlativ zu sein schien!], was Not tut, hingerichtet sind, wo [mit weiteren Superlativen versehen und ausgeschmückt!] die heiligsten Entschlüsse und Vorsätze für das zukünftige Leben gefasst werden. Denn mit dem ernsten Gelübde [welches, wie N sich das gerade ausmalte und ideal erhoffte, dass dies in idealst gedachter und erwünschter Weise mit der Konfirmation vollzogen würde!] trittst du in die Reihe der erwachsenen Christen ein [wobei N in Illusionen schwelgte, die nicht zu erfüllen waren!], die des teuersten Vermächtnisses unsres Heilands für wert gehalten werden, um durch den Genuss desselben ihrer Seele Leben und Seligkeit zu finden. Ich wünsche dir nun hierzu den reichsten Segen des Herrn, dass er dich zu einem würdigen Empfang seiner Gottesgaben mit seiner Kraft stärke und auf dich auch fernerhin stets das Füllhorn seiner Gnade ausgieße. Mit diesem Wunsche und in der frohen Hoffnung auf baldiges Wiedersehen verbleibe ich Dein dich herzlich liebender Freund FWNie (134) [so wie es da steht, den Namen nicht ausgeschrieben!]
Hat der gut fünfzehnjährige N tatsächlich an diesen von ihm dem Freund unterbreiteten aufgedonnerten Schwulst geglaubt? Die illusionär überhöhte Geisteswelt seines Herkommens hatte da aus ihm gesprochen. Er spielte den „kleinen Herrn Pastor“, der in der Lage war, etwas nachzuplappern, „dass einem die Tränen kamen“! Es waren kulissenartige Versatzstücke seiner sehnsuchtsgetränkten Phantasie. N beschrieb da, wie später in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ über Schopenhauer und Wagner eine Vision seiner eigenen erdachten , ausgedachten, erträumten, hochidealisierten, unausgegorenen und von jeglicher Wirklichkeit weit abgehobenen Vorstellungen , - diesmal von einer Konfirmation, die er ein Jahr später selber entfernt nicht auf diese Weise erleben sollte - weil er sich hiermit bereits in seinen „Illusionen zur Konfirmations-Angelegenheit“ vollkommen verausgabt hatte? - denn in einem Jahr dann, war diese nicht eine erdachte , projizierte und idealisierte , sondern von der nicht überhöhten und nicht zu überhöhenden Tatsächlichkeit in der „jetztzeitigen“, nur platten, „Ekel“ bereitenden Tatsächlichkeit angesiedelt und damit jeder illusionär veredelnden Parallelweltlichkeit beraubt.
Bis zu seinen scheinbar so völlig anders klingenden „berühmten Jugendaufsätzen“ über „Schicksal, Fatum und Willensfreiheit“ waren es noch rund zwei Jahre hin! Auch wenn er nicht wirklich so innig, wie die Worte den Anschein erwecken, geglaubt hat, - also nicht wirklich tief „gläubig“ gewesen ist, wie seine Mutter! - so benutzte N hier doch Worte, Bilder, Vorstellungen, für etwas, das - vor allem für den Freund! - Gültigkeit haben sollte ! Der Wunsch hatte ihm diktiert, was er da schrieb. Seine eigene Konfirmation wird er - als Realität eben! - nicht entfernt in der hier gezeigten Inbrunst erleben können : Der Einbruch des Tatsächlichen schmälerte ihm jede erträumt übertriebene Großartigkeit. Das sollte N später in seinem Leben von „Werk“ zu „Werk“ immer wieder erfahren, - im jedesmaligen Prozess einer Ernüchterung nach hochfliegenden Illusionen . Alles in seinem Leben unterlag diesem „Unglück“, dass seine Wünsche, Träume, Hoffnungen und „Vorstellungen von der Wirklichkeit“, wie er sie schön finden würde , immer dem, was dann tatsächlich kam, weit vorauseilten, weil sie unrealistisch, gefühlsblind, maßlos und übertrieben waren! So sollte es ihm mit seiner gesamten „Philosophie“ ergehen: Sie enteilte stets in Worte, Bilder, Vorstellungen und Ausdrucksmittel für das und von dem, was Er für wahr und richtig halten wollte , - aber gerade das ließ sich auf keine Weise erreichen! Sein späteres, ungestüm leidenschaftliches Gegenanrennen gegen das, was er hier noch so innig vertrat, ist wohl in ähnlichen „Maßen“ zu verstehen, als eine Hülle, die nicht mehr und auch nicht weniger Bedeutung hat als das, was er sich anlässlich der Konfirmation seines Freundes und damit auch zu seiner eigenen zusammenschmuste, um daran seinen letztlich vergeblichen „schulgesetzlichen“ Halt finden zu können.
Einen Monat später, am 16. April 1860 schrieb N in einem Brief an die Mutter in Naumburg:
Ich befinde mich diesmal nach den Ferien nicht so wohl und kann mich noch gar nicht recht wieder hineinfinden. Wie gern möchte ich eine etwas längere Zeit in Naumburg zubringen. Es ist doch gar zu gemütlich [in dieser Zeit ein viel gebrauchtes Lieblingswort]! ….. Ich brauche allerdings jetzt Wäsche sehr nötig; aber wenn sie noch nicht fertig ist, sende mir nur gleich morgen Stahlfedern, meine Stiefel, etwas Kakao und auch ein paar neue Hosen, aus einem Magazin gekauft ….. Meine schwarzen Hosen sind so morsch, dass sie neulich beim Kegeln ganz zerrissen. Ich habe sie jetzt beim Flickschneider ….. Bitte schickt mir die 5 Silbergroschen mit. Ich möchte sie mir zwar gern aufheben, aber am Anfang eines Semesters muss man viel kleine Ausgaben machen, besonders als Primus. Auch meine grauen Hosen und meine gute Weste schickt mit, nehmt aus letzterer den Kistenschlüssel und sendet ihn mir in einem Brief! (139)
Drei Tage später, an einem Donnerstag, schrieb er schon wieder an die Mutter:
Ich danke dir, meine liebe Mamma viele Mal für den lieben Brief und die Kiste. Wie gern wäre ich heute nach Naumburg gekommen, aber wir hatten keinen Spaziergang …… ich wünschte sehr, dass wir uns bald wiedersehen. Es sind noch fünf Wochen bis Pfingsten ….. Ich habe jetzt immer viel zu tun und lerne immer neue Primusämter kennen ….. Könnt ihr nicht irgendwann bei schönem Wetter einmal herauskommen? Für alles, was du mir geschickt hast, danke ich vielmals; nur Stahlfedern hätte ich gern noch gehabt, da ich sie sehr nötig brauche. Meine neuen Hosen gefallen mir ganz gut; werden sie denn auch viel aushalten? Ich weiß noch gar nichts Genaues über den Tod des lieben Onkels, wie es so schnell kam, wie das Begräbnis war, wie die liebe Tante sich befindet. Bitte schreib mir das doch oder erzähle es mir lieber mündlich. (140)
Zu der Zeit war N, mehr oder weniger beiläufig erwähnt, nach wie vor Primus, das heißt der Beste in Obertertia und ist dies in folgenden Jahrgängen, mit zwischenzeitlichen Straf-Absetzungen - außer in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern! - bis zum Abitur gewesen. In späteren Jahren hat er diese Tatsache eines momentanen Effektes wegen verleugnet , als er für die Stimmigkeit seiner Ansicht, die er seiner späten Bewunderin, Meta von Salis (1855-1920), - nachdem diese Ihn „in die Kunstgriffe des Ruderns eingeweiht“ hatte! - anvertraute: Nämlich dass er wahrheitswidrig „durchschnittlich der Dritte in seiner Klasse gewesen [wäre], entsprechend dem natürlichen Verhältnis [oder der „philosophisch“ passenderen Gesetzmäßigkeit?], dass der Fleißigste den ersten, der Tugendspiegel den zweiten, das Ausnahme-Wesen [das er in jeder Beziehung auf Gedeih und Verderb darstellen wollte!] erst den dritten Posten in einer nach den üblichen [verachteten und unbedingt nur verachtbaren] Moral-Prinzipien geordneten Anstalt [wie Schulpforta eine war] erhalten könne. PuE.57Meta von Salis überlieferte dies in ihrem weihevollen Buch über N, das sie unter dem Titel „Philosoph und Edelmensch“ noch zu Ns physischer Lebenszeit, 1897, veröffentlichte.
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