Am 15. Dezember 1859 schrieb Elisabeth N aus Naumburg an ihren Bruder in Pforta:
Mein liebes Fritzchen! Nun wie geht es Dir mein liebes Herzensbrüderchen? Du bist gewiss recht wohl und freust Dich recht auf Weihnachten, wie ich mich habe gefreut, denn jetzt kann ich es gar nicht mehr, seitdem der Großpapa so krank ist. Ach mein Fritzchen wir werden wahrscheinlich ein trauriges Weihnachten haben. Als wir Dienstag den expressen Brief in Gorenzen bekamen waren wir alle furchtbar erschrocken, denn diese Höhe der Krankheit hatten wir nicht vermutet. Die Mama packte nun die ganze Nacht ein und Mittwoch reisten der Onkel, die Mama [nach Pobles] und ich fort [nach Naumburg]. Gestern Abend bin ich nun ganz allein hier angekommen ….. Ich hoffte wenigstens den Onkel Oscar zu finden, aber auch dieser ist fort nach Pobles [dem Wohnort der Großeltern] ….. Auf den Sonntag mein liebes liebes Fritzchen treffen wir uns doch bei der Tante Rosalie [zu der der Weg zwischen Naumburg und Pforta kürzer war als durch Naumburg hindurch bis zum Weingarten 18]. Nicht wahr mein Herzensfritz? Dann begleite ich Dich ein Stückchen und da wollen wir uns recht erzählen …..
Am 17. Dezember 1859 starb der Großvater in Pobles. Für den 30. Dezember 1859 gibt es wieder einen Eintrag im Pfortaer Krankenbuch. N war wieder wegen „Katarrh“ auf der „Krankelei“. J1.128Über das Weihnachtsfest der Jahres 1859 blieben keine Berichte erhalten.
1860: Die Zeit der „Germania“
In Frankfurt am Main stirbt der N unbekannte deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer. Der spätere Basler Professorenkollege, Jacob Burckhardt, 1818-1897, ein Schweizer Kulturhistoriker, veröffentlicht „Die Kultur der Renaissance in Italien“ als Standardwerk dieser Epoche. Die Firma Krupp entwickelt sich zum größten deutschen Schienen-, Eisenbahnräder- und Waffenfabrikanten. In den USA beginnt der 5 Jahre dauernde Sezessionskrieg mit dem Endergebnis der Aufhebung der Sklaverei in den USA.
Für den 5. bis 16. Januar 1860, also für 11 Tage, enthält das Pfortaer Krankenbuch für N den Eintrag, wegen „Katarrh“ auf der Krankenstube. J1.128
Von der „Krankelei“ berichtete N am 8. Januar 1860 an die Mutter in Naumburg:
Liebe Mamma! - Ich danke Dir, liebe Mamma und dem Onkel viele Mal für euren lieben Besuch. Warum hast du nicht den Hr. Doktor besucht? Er hatte wenigstens von deinem Kommen und dem Tode des Großpapas erfahren. Wir hätten uns bei ihm doch länger sprechen können. - Seid ihr denn bei dem stürmischen Wetter glücklich wieder zurückgekommen? - Es tut mir heute am Sonntag recht leid, dass ich nicht nach Naumburg kann. Denn hier [auf der Krankenstube] ist es sehr langweilig; außer mir ist nur noch einer hier. Ich schicke dir auch meine Kiste wieder, mit etwas schmutziger Wäsche. Sehr nötig brauche ich jetzt Papier und Stahlfedern. - Bitte schicke mir doch auch meinen Heliand [ein frühmittelalterliches, altsächsisches Großepos aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts; fast 6.000 stabreimende Langzeilen über das Leben von Jesus Christus) damit ich auf der Krankenstube doch etwas zu lesen habe ….. Denke, schreibe, schicke recht bald an mich, vielleicht besuchst du auch Deinen FWN (Sonntag) (124)
An wichtigen zeitgenössischen Informationen bot Pforta seinen Schülern herzlich wenig.
Am 13. Januar 1860 und immer noch auf der „Krankelei“ schrieb N an Tante Rosalie in Naumburg:
Meine liebe Tante! Wie gern möchte ich heute an Deinem Geburtstage zugegen sein und Dir meine Wünsche bringen! Aber die Krankenstube, die ich immer noch [seit dem 5. Januar] mit meinem Besuch beehre, hindert mich daran. Der liebe Gott möge auch in diesem Jahre stets mit Dir sein und Dich mit himmlischen und irdischen Gütern aufs reichlichste segnen! Er beschütze Dich gnädig vor Krankheit und andern Unfällen und lasse Dich noch recht viele Jahre erleben! [Zu jener Zeit bewegte sich N unangefochten in den Konventionen und Gläubigkeitsfloskeln seiner Zeit, - frei noch von den geringsten Anzeichen, dass irgendetwas davon keine Gültigkeit mehr würde haben können!] Mir aber bewahre Deine Liebe auch fernerhin - denn auch ich bin sehr oft in Gedanken bei Dir und erinnere mich der schönen Stunden, die ich bei Dir verlebt habe. - Ich hätte Dich so gern diesen Sonntag besucht; aber ich fürchte, dass mein Unwohlsein mir das nicht erlauben wird ….. Mein Husten ist nur noch selten, aber der Herr Doktor gestattet mir doch nicht, herüberzukommen [in den normalen Schulbetrieb], besonders da es jetzt wieder kälter geworden ist ….. (125)
Zwei Tage später schrieb er an seine Mutter in Naumburg:
Liebe Mamma! Endlich bin ich von der Krankenstube zurückgekehrt. Der Hr. Doktor wartete immer auf einen etwas milderen Tag. Mein Husten ist fast ganz vorüber. Ich trage aber doch den Schal noch ….. Nächsten Sonntag werde ich in unsre Wohnung kommen; ich freue mich sehr darauf. - Seid ihr alle ganz wohl? ….. (126)
Mitte Februar 1860 schrieb N an seinen Freund Wilhelm Pinder in Naumburg:
Lieber Wilhelm! Unser Leben in Pforta ist weiter nichts als ein beständiges Erinnern und Hoffen. Während nun das erstere mitunter auch recht traurige Vergleiche mit früheren Zeiten zulässt [des Domgymnasiums? - oder gar in viel fernere, griechisch heroische Zeiten weisend?], so stärkt und tröstet das zweite [das „beständige Erinnern und Hoffen“?] wieder mit dem süßen Balsam der Erwartung und überhebt uns aller Gedanken an die kalte langweilige Gegenwart [die unter den Freunden mit inbrünstiger Missbilligung und hehrer Verachtung noch auf Jahre hinaus mit dem erbarmungslos abwertenden Begriff „Jetztzeit“ belegt wurde!]. Jetzt liegen die goldnen Weihnachtstage hinter uns, schon von dem leisen Duft der Ferne überzogen [die wonach riecht?], aber desto heller ergrünen vor uns die freudenreichen Fastnachtstage; [womit der nächste Welt- und Wirklichkeitsfluchtpunkt angesteuert und sehnsuchtsvoll erwartet wurde:] und über diesen erheben sich noch, wie über die nächsten Hügel noch weithin die Berge ragen, von lieblicher Bläue umhüllt, die heiligen Osterwochen. Ja, das Hoffen ist unser Himmelreich - die Seele sucht so gern einen Punkt, wo sie Erquickung hofft, wo eine Goldader die trägen Gesteine durchbricht [und mit einem bunten Strauß vieler blumiger Worte eine illusionäre Gegenwelt gezaubert wurde. Diese Erwartungen sollten N einen gewissen Halt vermitteln, weil er in sich selber keinen irgendwie und wo nicht nur auf ihn selbst bezogenen Halt besaß ; - er sich aber nach einem solchen als „höhere Ordnung“ sehnte!].
Weißt Du schon, wo ich in den nächsten Ferien wahrscheinlich hinreisen werde? Nach jenem lieben Plauen, das mir wirklich einige der lieblichsten Jugenderinnerungen [wieder nur auf ihn selbst bezogen!] zurückruft. So gedenke ich noch einer reizenden Wiese, die rings von grünen Hügeln eingefasst, von zahlreichen Quellen durchwässert, mir einst das Erwachen der Natur enthüllte ….. das erinnert mich immer an das so einfach natürliche Lied: Der Frühling ist kommen so bald, so bald und streut seine Wonne auf Flur und Wald. Und Liebe und Leben und Freude und Glück das kehrt mit dem nahenden Lenze zurück. Die Wolken so duftig so rein wie ein See - O könnte ich sterben vor Lust und Weh! (129)
Als Gegenpol zu den „Gedanken an die kalte, langweilige Gegenwart“ wurde romantische Weltflucht gepflegt und getrieben, durch etliche Jahre hindurch ein antrainiertes Empfinden der Abneigung , ja sogar der rundum geltenden Verneinung gegenüber der unvergoldeten Wirklichkeit, deren Annehmlichkeiten man nicht wahrnehmen wollte. Das war ein Dauertraining in der Erwartung und im Erhoffen einer irgendwie „besseren“, „höheren“, verklärten Welt. Vergebliches Hoffen auf und Erwarten von befriedigenden , d.h. ihn erhebenden Höhepunkten stärkten seinen Ekel - ein künftig gern von ihm gebrauchtes Wort, besonders im „Zarathustra“ dann! - vor der „kalten, langweiligen [und nichts als nur tatsächlichen !] Gegenwart“. Er war stets auf ästhetizistisch Besonderes aus, auf Seltenes, auf Hervorragendes , über das allein er sich freuen und üppige „Wertschätzung“ verschwenden konnte, die er nichts „Wirklichem“ entgegenzubringen vermochte und weil diese allen zugänglich und nicht bevorzugt auf ihn bezogen war! Von grauem Alltag umgeben fixierte er sich früh schon auf das, was eben nicht alltäglich war: Diese Lebenshaltung sollte N sein Leben lang „kultivieren“ - er pflegte und lebte sie bereits in vollen Zügen, - indem er sich ständig künstliche Paradiese schuf; darauf sinnend, in Gedanken „bessere“, ihm behagendere „Welten“ entstehen zu lassen, die ihm aber in seiner Phantasie nur besser erschienen ! - nicht weil sie besser waren ! - Fehlte ihnen doch das, was ihm den eigentlichen „Ekel“ verursachte: Das Wirkliche in seiner nicht hinweg zu leugnenden Eindeutigkeit! Und weil er eine Wirklichkeit kannte, die erst durch Emersons Erklärungen wirklich in sein Blickfeld geriet
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