Die Aufnahme von Paul Deussen als Alumnus verlief in Schulpforta sehr ähnlich wie vor Jahresfrist von N selber. Den Verlauf der Aufnahme als Alumnus in Schulpforta beschrieb Paul Deussen kurz nach Ns Tod 1901 und ausführlicher rückblickend auf sein Leben 1922 in seiner Biographie mit dem Titel „Mein Leben“. In dem darin enthaltenen Kapitel „In Schulpforta, 1859-1864“ vermittelte er einen lebendigen Eindruck von der dortigen und damaligen Realität, - in einer Weise, wie sie dem stets viel zu sehr mit sich selbst beschäftigten N bezeichnenderweise entfernt nicht gelungen und überhaupt nicht möglich war, so dass das damalige Schulpforta Ns am besten mit Paul Deussens Worten beschrieben wird:
Die beschränkte Vermögenslage der Eltern war wohl ursprünglich der Grund dafür gewesen, dass man schon vor einigen Jahren um eine der wenigen königlichen Freistellen ….. nachgesucht hatte ….. Das Gesuch war auf die Zukunft vertröstet worden ….. Als während der Herbstferien 1859 in Oberdreis [30 km östlich des Rheins in der Höhe von Bad Honnef, wo der Vater eine Pfarrstelle innehatte] die überraschende Nachricht eintraf, dass mir eine königliche Freistelle in Pforta [und das war von seinem Zuhause nicht, wie bei N, „gleich um die Ecke“] zuerkannt worden sei und dass ich mich dort Ende September zur Aufnahmeprüfung einzufinden habe ….. Das Resultat der Prüfung war, dass ich, der ich in Elberfeld als einer der Besten nach Untersekunda aufgerückt war, in Pforta als Letzter in der Obertertia meinen Platz zugewiesen erhielt.
Pforta war für mich eine neue Welt und eine solche, in die ich mich anfangs schwer finden konnte. Ich war schon zu sehr an ein freies Leben gewöhnt, um die Schulordnung nicht als eine schwere Fessel zu empfinden und mein harmloses, offenherziges Rheinländergemüt passte in das zeremonielle und zu strengem Rangesunterschied neigende Wesen des Ostens nicht hinein. Das Ganze kam mir lächerlich vor und ich versuchte zu Anfang die strenge Schulordnung, die Unterordnung unter Stuben- und Tischältesten humoristisch zu nehmen, kam aber damit schlecht an; mein freies Wesen wurde als „unverschämt“ bezeichnet und veranlasste Bedrückung von oben, Quälereien von den mir nebengeordneten Kameraden …..
Alle 180, auf die sechs Klassen von Oberprima bis Untertertia verteilten Alumnen erhielten Unterricht und Nahrung, Wohnung und Schlafstelle unter ein und demselben Dach, in einem alten, riesengroßen Klostergebäude. Eine Treppe hoch im Schulhaus gelangte man von einem langen, zum Spazierengehen benutzten Korridor in die fünfzehn Wohnstuben, gewöhnlich drei, stellenweise zwei oder vier Tische enthaltend, an deren jedem ein Primaner, ein Sekundaner und zwei Tertianer zu sitzen pflegten. Der Primaner hatte den Fensterplatz und einen größeren Schrank mit Pultklappe, die übrigen hatten ihre Schränke an den Wänden und ihren Sitz am Tische, von dem sie während der Arbeitsstunden nicht aufstehen durften.
Die Art, wie Deussen Pforta beschrieb war realistisch und himmelweit entfernt von dem, wie N die Welt sah. Was er ihm zur Kenntnis kam lag insgesamt weit außerhalb von Ns Wahrnehmungshorizontes. Es gibt von N keine Darstellung von der ihn umgebenden „Welt“ in diesem Stil!
Zwei Treppen hoch waren unter dem Dach und teilweise mit Mansardenfenstern versehen die sechs großen Schlafsäle [mit also je rund 30 Betten] eingerichtet, zu welchen man abends um 9 Uhr unter Verlesung der Namen in Gegenwart des wachthabenden Lehrers hinaufstieg, nur mit Pantoffeln und Strümpfen, Hose, Hemd und Rock bekleidet, das Handtuch mit Seife, Glas und Zahnbürste mit hinaufnehmend. Man schlief in eisernen Bettstellen; am Fußende befanden sich Hängevorrichtungen sowie der Name des Inhabers. Frühmorgens im Winter um 6, im Sommer um 5 Uhr, mischte sich in die letzten süßen Morgenträume das fatale Läuten der Schulglocke und alsbald ertönte der Ruf des Schlafsaalinspektors: Steht auf! ….. macht rasch!“
Dann musste man bei Strafe in einer Minute aus dem Bette sein, ergriff Handtuch, Glas und Zahnbürste und eilte damit zwei Treppen hinunter in die Waschstube. In fürchterlicher Enge drängten sich hier die 180 Knaben um die fünfzehn vorhandenen Waschbecken [also jeweils 12], welche man sich dadurch sicherte, dass man bei dem Inhaber oder seinem letzten Nachfolger ‚“besetzte“ und dann, immer in der Angst sich zu verspäten, abwarten musste, bis man an die Reihe kam. Mitten durch die Waschstube lief eine Rinne, in die das Wasser ausgegossen und über der die Zähne geputzt wurden …..
Eine derart realistische Darstellung der Pfortaer Verhältnisse wäre N niemals in den Sinn gekommen! Das widersprach fundamental seinem süchtigen Bedarf nach Überhöhung!
Um 6½ oder 5½ Uhr musste alles in der Aula zum Gebet versammelt sein, dann gab es auf den Stuben Brötchen und Milch und von 7 oder 6 bis 12 Uhr waren teils Lektionen, teils Repetierstunden auf den Stuben. Um 12 Uhr zog man unter Aufsicht des Lehrers in den Speisesaal; einer der Inspektoren sprach ein Gebet und dann stimmten alle 180, vor ihren Plätzen stehend, in einen alten lateinischen, die Trinität [die Dreieinigkeit von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist] verherrlichenden Gesang ein, der jedem gewesenen Pförtner solange er lebt in den Ohren klingen und dröhnen wird. Die Worte lauteten: Gloria tibi Trinitas Aequalis una deitas, Et ante omne saeculum Et nunc et in perpetuum PDL.62ff[zu Deutsch: Ruhm, Ehre deiner Dreifaltigkeit, gleich in einer Gottheit, sowohl vor aller Zeit als auch in Ewigkeit].
Weder das schlechte Latein noch die in der freisinnigen Pforta auffallende dogmatische [streng an Glaubenssätze gebundene] Engherzigkeit dieser Strophen wurden von den auf das Essen gerichteten Gemütern empfunden. Kaum war der Gesang verhallt, so stürzte sich alles auf die Plätze und das Geklapper der Teller und Löffel mischte sich in die nach längerem Schweigen nunmehr zwanglos fließende Unterhaltung. Das Essen ließ zwar nach der Qualität manches zu wünschen übrig, war aber, namentlich die Fleischrationen, reichlich und als ich von Pforta nach Jahresfrist in die Ferien zurückkehrte, war ich einen halben Kopf größer geworden.
Mittags nach dem Essen war bis 2 Uhr schulgartenfrei: bis ½2 Uhr durfte sich ohne besondere Gründe niemand auf den Stuben blicken lassen. Im Schulgarten war der südliche, mit Buschwerk bewachsene Abhang in sechs Teile zerlegt und den sechs Klassen als ihre „Plätze“ zugewiesen. Das Rauchen war damals allen streng verboten, doch übten es die Primaner, welche nicht mehr unter Aufsicht der Inspektoren, sondern nur der der Lehrer standen, auf dem Primanerplatze wie auch auf Spaziergängen und im Wirtshause; und auch auf dem Obersekundanerplatze konnte man täglich duftige blaue Wolken aufsteigen sehen; und die Inspektoren enthielten sich des Eingreifens, indem sie den Brauch gleichwie ein altes Privilegium respektierten.
Geregelt, wie der Vormittag, waren auch die weiteren Tagesstunden. Von 2 bis 4 Uhr waren Lektionen, von 4 bis 5 Uhr Lesestunde, d.h. eine Unterrichtsstunde, welche der Primaner den an seinem Tisch ansässigen und ihm unterstellten Tertianern zu geben hatte. Von 5 bis 7 Uhr war wieder Arbeitsstunde, um 7 Uhr Abendbrot und schulhausfrei bis 8 Uhr, von 8 bis 9 Uhr Arbeitsstunde und Gebet und um 9 Uhr wurden Sekundaner und Tertianer auf die Schlafsäle hinaufgezählt, während die Primaner erst um 10 Uhr nachfolgten.
Diese ausgezeichnete Hausordnung unterlag der Aufsicht eines einzigen Lehrers, der jede Woche wechselte, des sogenannten Hebdomadarius, welcher mit Hilfe eines Famulus, „ein Ehrenposten“, zu dem nur die besten Schüler gelangten, von Morgen bis Abend die Ordnung im Speisesaal, Beetsaal und Schlafsälen aufrecht hielt, auch während der Arbeitsstunden. Als Stubenälteste der 15 Stuben funktionierten 15 Inspektoren, eine Würde, welche den ältesten Primanern für ein bis zwei Semester zufiel. Sie sorgten für Ruhe und Ordnung in den Stuben, während zwei unter ihnen als Wocheninspektoren auch die Disziplin im Beetsaal, vor dem Speisesaal und auf den Schlafsälen in Abwesenheit des Lehrers aufrechtzuerhalten hatten.
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