Johann Christian Friedrich Hölderlin, 1770-1843, war einer der bedeutendsten deutschen Lyriker dessen Werk in der deutschen Literatur um 1800 neben der Weimarer Klassik um Goethe und der Romantik eine selbständige Stellung einnimmt. Er erkrankte 1801 an einer Schizophrenen Störung. Abgesehen davon, dass der letzte Teil des Satzes von Paul Janz etwas schwierig zu deuten ist, strotzt das Ganze nur so von superlativistischem Pathos - in Hölderlinschen Überhöhungen, die N aber erst im Jahre 1861 zugänglich - und zu der Zeit dann hier auch erläutert - werden. Das Leben aber ist anders. Zum Zeitpunkt des Scaevola-Geschehens, auf dem „Schulhof“ in Pforta - auch wenn dieser Pfortaer Außenbereich als „Musengang im Schulgarten“ bezeichnet wurde - ging es um Schuljungen, um deren Streiche und deren Hackordnungen: Ein Geflecht, in dem Hampelmänner gegen Mutproben aufgewogen wurden. Die Verbrennung an Ns Handfläche kann nicht derart gravierend gewesen sein, dass es aufgefallen wäre oder ihn, ohne Versorgung der Wunde in der „Krankelei“ behandeln zu lassen, am Schreiben gehindert hätte, sonst hätte sich dazu zwangsläufig ein Eintrag in das Protokoll der Pfortaer Krankenstube ergeben. Die Einschaltung des um zwei Jahre jüngeren Mädchens Elisabeth als „Vermittlerin“ in dieser Angelegenheit, bei der sie gar nicht dabei gewesen sein konnte, ist sicherlich eine hinzugedichtete Legende ihrer Geltungssucht. Das Ganze war also wohl gar nicht so schlimm und in seiner Originalversion entschieden zu wenig, um daraus für den Wunderbruder eine wirkliche frühe, Staunen erregende „heroische Tat“ in dessen Biographie zu flechten.
Als schlichte Mutprobe genommen und unter der Voraussetzung, dass N von dem möglichen Vorkommen einer angeborenen Analgesie des Mucius Scaevola keine Ahnung gehabt hatte, bleibt als Motiv eigentlich nur ein ganz naives „Das-kann-ich-auch“, was N insofern zuzutrauen wäre, als es seinem „herrscheramtlichen“ Daseinsgefühl - wie er es anlässlich seines „besungenen“ Besuches der Schönburg beschrieben hatte! - ohnehin schwer fiel, zu erkennen, dass er nicht , wie tausendfach nachgeplappert, immer so ohne weiteres „oben“ und „die Anderen“ unten zu sein hatten. Hier ergab sich ganz einfach eine Situation, in der er, als Primus gar, in einer gerade angezweifelten Situation einmal mehr „Mut“ zeigen konnte und musste als irgendwelche, sich vielleicht über N mittels karikierender photographischer Hampelmänner amüsierende „etwas weichlich Gesinnte“ es vermutet hätten. Die letzte Bemerkung bezieht sich nämlich auf eine von Paul Deussen überlieferte Anekdote, dass jemand aus einer Photographie von N einen Hampelmann gefertigt und im Schulgarten vorgezeigt hatte. Genaueres dazu aber erst am Ende des Jahres 1860.
Wirklich bemerkenswert an diesem Vorfall ist eigentlich nur die Reaktion der um Stilisierung und Erhöhung bemühten N-Verherrlicher: Die Vieles schönfärbend entstellende Schwester wagte es noch nicht, sich zu diesem Anlass allzu weit vorzuwagen. Sie begnügte sich mit so harmlosen Worten wie „heroische Handlungsweise“, was eben auch als ein aufgedonnerteres Wort für „Mutprobe“ genommen werden konnte. Aber die Nachfolger brauchten zu ihrer Befriedigung mehr ; bei allem Zweifel, den sie so hie und da hegen mochten, waren sie doch bereit, wesentlich weiter zu gehen und an sprachlichem Dekor mehr zu investieren. Aus der jugendlich geltungssüchtigen Unüberlegtheit wurde - in Rückprojektion! - der freudig zur Kenntnis genommenen „berühmten philosophischen Geistesgröße“ und besser zu dieser passend, „ein stärkerer Trieb “ erkannt, jener „der Selbstüberwindung “ und dazu „der Wille, das einmal angenommene Gesetz sowohl wie das eigene Ideal bis zur letzten Konsequenz auch zu leben.“ - Das ergab den Worte-Qualm des Effektes wegen!
Was sollte denn - nüchtern festgestellt! - Ns „eigenes“ und sogar „höchstes“ Ideal zu dem Zeitpunkt gewesen sein? Es ging damals darum „denen mal zu zeigen“ wie viel Mumm in ihm steckte. Das dürfte auf dem Pfortaer Schulhof alles gewesen sein, worum es gegangen war, denn von dem was kommen sollte, hatte doch N selbst noch nicht die geringste Ahnung! Er wollte nur zeigen, dass er zu etwas fähig war, zu denen sie alle den „Mut“ - und auch den Bedarf an Selbstdarstellung ! - nicht besitzen würden. Er wollte „oben“ sein. Die N-Hoch-Jubelung war damit aber noch nicht am Ende: Es wurden Vergleiche bemüht, die ins Mittelalter verwiesen: „Leibesverachtung“, wie es die Flagellanten (die sich selbst Geißelnden) und noch heute muslimische Möchtegernmärtyrer zu betreiben lieben und dazu auch noch einsiedlermönchische „Leidensbejahung“, um den Unterschied zwischen „dem Jammertal des Lebens und der Welt“ gegenüber dem „ersehnten Himmelreich“ so deutlich wie nur irgend möglich aufscheinen zu lassen.
Aber auch das war noch nicht genug. Es musste noch weiter gesteigert werden, in Theorien und Worten: Stärker und maßloser die eigenen Wünsche ausdrückend und den Größenwahn als Normalität betrachtend: Hier fände - dreimal betont! - „ein Wahrhaftigkeitstrieb von antikem Ausmaße “ statt. Man bedenke, was damit, über Jahrtausende hinausdeutend, ausgesagt wurde! Als ginge es - mindestens ! - um den „kindlichen Jesus im Tempel“! - Und dessen „erste kindliche Ausdrucksform, ein Wahrhaftigkeitstrieb , der es nicht erträgt, dass der Mensch ohne Entscheidung schielend zwischen Ideal und Praxis sich verhält, ein Wahrhaftigkeitstrieb , der von vornherein in einem unheimlich anderen geistigen Raum als dem des 19. Jahrhunderts zu Hause ist!“ - Was für Töne! - Und dann wurde noch ein Superlativ angehängt: - der „höchsten Idealität“! - Sakrosankt! Einfach nur heilig, mit Gloriole und schwebendem Flämmchen der Erleuchtung über dem Haupt! Eine Aneinanderreihung ausschließlich positiv besetzter oder so zu denkender Eigenheiten und Absichten! Daran mag ja, je nach Sichtweise der eigenen Vorlieben, also dem, was man sehen möchte , etwas sein, aber es wird bei dem fünfzehnjährigen mit seinem „Ehrgeiz bis zum Defekt“ NR.320absolut nicht so prinzipiell in Hinsicht auf künftige welthistorisch anzusetzende Ungeheuerlichkeiten vor sich gegangen sein, sondern dürfte sich eher um spontane Selbstdarstellung gehandelt haben, bei der es eben ohne Weiteres auch mal Risse und Löcher in seinen ständig zu flickenden Hosen gab!
Am 22. September 1859 berichtete N der Mutter von guten Noten in Examensarbeiten: Lauter „Einser“ und „zweier“ und die Versetzung: „Nun, Sonnabend bin ich glücklicher Obertertianer!“ - und wieder einmal ging es um Hosen: „Es ist mir nämlich ein großes Malheur passiert, dass meine schwarze gute Hose zerrissen ist ….. Ich werde überhaupt auch die Klassenpartien deshalb nicht mitmachen können, da meine andren Hosen (Turnhosen) durch Blutflecke am Knie entstellt sind und meine alten schwarzen [ebenfalls] zerrissen. Das ist doch rechte Hosennot! (95) Von zerrissenen, aufgeplatzten, zu flickenden Hosen ist oft die Rede, was darauf hindeutet, dass er zum Einen mit dem Umgang selbiger nicht sonderlich zimperlich und zum Anderen an allerlei Wildheiten und Rangeleien unter den Mitschülern angemessen beteiligt war.
Nebenbei erfährt man von Planungen, Touren, von Reisen der Mutter hilfsweise zu Verwandten und von Wanderungen, - ein wenig fast wie in Fontanischen Romanen. Ns erstes Jahr in Schulpforta war vorüber und da erschien - unter etlichen anderen neuen Schülern - in seiner Klasse ein Rheinländer Pastorensohn, mit dem es, nicht ohne zwischenzeitliche Spannungen, zu einer recht tiefen Freundschaft kam, die bis zum Ende seines ersten Studienjahres in Bonn, 1865, sehr eng und vertraut bleiben sollte. Danach blieben beide in immer loserem aber lebenslangem brieflich geführtem Kontakt, - mit einigen wenigen, fast immer aber problematisch verlaufenden Begegnungen dazwischen.
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