Ende April 1860 schrieb N an Wilhelm Pinder in Naumburg:
Lieber Wilhelm! Ich muss dir doch wieder einmal ordentlich schreiben; denn es ist mir immer eine wahre Freude im Geiste dir nahe zu sein und mich mit dir zu beschäftigen. Wir haben uns aber auch recht lange nicht gesehen; seit den Ferien nicht wieder. Wie geht es Dir denn jetzt? Habt ihr noch immer so viel zu tun?
Diese Erkundigungen nach dem Befinden des Briefpartners haben bei N geradezu Seltenheitswert.
Ich befinde mich im Grunde ganz wohl, bin sehr viel im Freien und erfreue mich am Kegelschieben. Wir sind auch schon mit Hr. Prof. Buchbinder botanisieren gewesen, haben aber noch nicht viel gefunden. Außer verschiedenen Anemonen waren noch sehr wenige Blumen erwacht. Ich aber interessiere mich sehr dafür und habe die linneischen Klassen wieder gelernt [nach Carl von Linné, 1707-1778, dem schwedischen Naturwissenschaftler, der die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Ordnung nach verwandtschaftlichen Beziehungen schuf]. Wenn mich nur nicht meine [stark kurzsichtigen, zumeist ohne Brillen gelassenen] Augen am Suchen und Finden so hinderten! …..
Zeit und Einsamkeit [zur wahren Erfüllung seines „Herrscheramtes“?] fehlt mir in Pforta doch sehr! - Könnten wir uns doch bald sprechen? Nicht wahr, zum Schulfest, das ist der 21. Mai kommst Du heraus? ….. Meine Primuspflichten sind mir jetzt zwar oft unangenehm und lästig; (es gibt in Pforta noch eine Menge anderes zu tun als die Klasse in Ordnung halten und das Klassenbuch führen) aber im Ganzen kommen sie mir doch nicht so schwer an, wie ich beim Beginn des Semesters glaubte. Der Mensch gewöhnt sich doch an alles! - (144)
Am 30. Mai 1860 schrieb N der Mutter:
Liebes Mammächen!? So ist denn diese schöne, prächtige Ferienzeit wieder vorüber und ich muss mich wieder in die unvermeidlichen Banden fügen. Dieses einförmige, geräuschlose Leben ist doch völlig von den freien, selbstgewählten Beschäftigungen verschieden; ich wünsche mir die Ferien eigentlich sehr wieder herbei. Denn mir erscheint es fast, als ob man mehr als hier noch tun könnte, da man nach Wille und Wunsch arbeitet ….. Ihr erhaltet heute eine leere Kiste, die ich aber morgen gefüllt erwarte. Sehr würde ich mich auch über einige Überbleibsel des Mahles freuen, denn mein Schrank ist leer, wie mein Beutel [die Geldbörse war gemeint]. Außerdem sendet mir Morgenschuhe, Stiefelknecht, Psalter und Harfe und Spittlers Kirchengeschichte (beides liegt auf dem Glasschrank) ebenso meine guten Beinkleider. Und dann das betreffende Geld ….. (151)
Das Pfortaer Krankenbuch enthält mit der Datumsangabe 12. - 26. Juni 1860 den Eintrag für N: Wegen „Rheumatismus“ auf der Krankenstube. J1.12815 Tage lang. Behandlung mit einem „Senfpflaster auf den Fuß“ und wohl erstmals einer „spanischen Fliege“ [ein Heilpflaster mit dem Wirkstoff „Cantharidin“, einem starken Reizgift, gewonnen aus gemahlenen Ölkäfern, die früher zu den spanischen Fliegen zählten, was N eine „schmerzhafte Geschichte“ nannte. In dem Zusammenhang ist nicht von Kopfschmerzen die Rede, aber gezielt gegen Kopfschmerzen sollte er eine „spanische Fliege“ im Februar des kommenden Jahres „hinter jedes Ohr“ bekommen. Währenddessen amüsierten ihn die Geschichten um den Lügenbaron Carl Friedrich von Münchhausen, 1720-1797, und er hat auch etwas komponiert.
In den Sommerferien [dieses Jahres 1860] unternahmen [N und Wilhelm Pinder] eine gemeinsame Reise [die N sehr ausführlich beschrieben hat BAW1.195-218] über Eisleben und Mansfeld nach Gorenzen am Harz, zu Ns Onkel Edmund Oehler, der dort Pfarrer [und zugleich, wie dessen Vater, so etwas wie ein Großbauer] war. J1.86
Über diese Reise verfasste N einen ausführlichen, begeisterten sich ungewöhnlicherweise nicht ausschließlich nur um ihn selbst drehenden, sich mit dem Thema der Ferienreise beschäftigenden, zwölf Druckseiten langen Bericht, der ohne etwas zu kritisieren der erlebten Welt und „den Anderen“ darin, zugewandt war. Ein seltener Ton bei N, - richtig erfrischend. Auch wenn es diesen Bericht in zweifacher Ausfertigung gibt und N sich auf diese Weise doch „noch einmal“ in seinen schon beschriebenen Erlebnissen „mit sich selbst“ und damit „einmal zu viel“ beschäftigte, ging es bei der Überarbeitung nicht mehr nur um die spontane Darstellung der Reise , sondern um das Zurechtschleifen von Effekten innerhalb des eignen Produkts, - als eine Verbesserung der Selbstdarstellung. Unter Anderem heißt es darin:
Der folgende Tag; es war ein Sonnabend; ist berühmt [nur wegen der folgenden Begründung?], weil an ihm [zwischen N und Wilhelm Pinder] der Beschluss zu unsern monatlichen Sendungen [die ja schon Praxis waren, aber nun kam hinzu:] und zu der gemeinschaftlichen Kasse gefasst wurde. [Es war eine wahrhaft sonderliche, d.h. erz-selbstmittelpunktliche Perspektive und Wertung, allein damit zur Berühmt heit eines bestimmten Tages gelangen zu wollen!] W[ilhelm] und ich waren in den Wald gegangen; hier setzten wir uns etwas hin und beratschlagten darüber. Der Plan erstreckte sich zuerst nur auf Poesie und Wissenschaft. Musik war noch ausgeschlossen. Über einzelne Forderungen und Bedingungen entstand ein Streit. Endlich schwiegen wir missmutig und gingen schweigend zurück in den Garten des Onkels. Hier endlich löste sich unsere Zunge; beide Teile waren nachgiebiger geworden. - An diesem Tag soll nun jährlich ein Fest gefeiert werden und zwar auf der Rudelsburg [knapp 5 km in südwestlicher Gegenrichtung zu Naumburg von Schulpforta entfernt], wozu jeder einen Beitrag schriftlich einliefern muss, dies wird dann [zur Erhöhung des Ganzen!] oben auf dem Turm vorgelesen. - BAW1.203f
Was die beiden während ihrer Ferienreise beschlossen hatten war ein regelmäßiger, satzungsmäßig sogar zu reglementierender und auch überwachter geistiger Austausch. Nach Naumburg zurückgekehrt führte dieser Plan unter Hinzuziehung von Gustav Krug - mit dem die Musik als gleichberechtigtes geistiges Gebiet dazukam - zur feierlichen Gründung eines regelrechten, nicht aber eingetragenen Vereins. Am 25. Juli 1860 wanderten sie [N, Wilhelm Pinder und Gustav Krug von Naumburg aus, in einem gemeinsamen „Festakt“ gewissermaßen] auf die Schönburg [statt wie geplant zur viel weiter entfernt gelegenen Rudelsburg] und beschwörten dort auf dem Turm [dem Höhenplatz, wo N knapp zwei Jahre zuvor sein „Herrscheramt“ beschlossen, genossen und dann auch noch dichterisch gefeiert hatte], ihren [„Geistes-]Bund“, den sie „Germania“ tauften. J1.86Aus nachgelassenen Schriftstücken geht hervor, dass N eindeutig und mit besonderem Ernst die treibende Kraft und auch der Hauptinteressent an dieser „Germania“ als seiner Bühne, sich darzustellen, war, um mit allerlei Vorsicht unter den Freunden sein „Herrscheramt“ auszuüben. N selbst äußerte sich über die „Germania“ am 16. Januar 1872, längst schon als „der Herr Professor in Basel“, in seinem ersten von fünf öffentlich gehaltenen Vorträgen „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“, zu denen er den eigentlich letzten, sechsten und eindeutig wichtigsten , schuldig blieb. Daran ist zu erkennen, welche Bedeutung sein „Germania-Spiel“ für ihn hatte:
Wir beschlossen damals eine kleine Vereinigung von wenig Kameraden zu stiften, mit der Absicht, für unsere produktiven Neigungen in Kunst und Literatur [und Musik!] eine feste und verpflichtende Organisation zu finden: d.h. schlichter ausgedrückt: es musste sich Jeder von uns verbindlich machen, von Monat zu Monat ein eignes Produkt, sei es eine Dichtung oder eine Abhandlung oder ein architektonischer Entwurf oder eine musikalische Produktion, einzusenden, über welches Produkt nun ein Jeder der Andern mit der unbegrenzten Offenheit freundschaftlicher Kritik zu richten befugt war. So glaubten wir unsere Bildungstriebe durch gegenseitiges Überwachen ebenso zu reizen, als im Zaume zu halten: und wirklich war auch der Erfolg der Art, dass wir immer eine dankbare, ja feierliche [überhöhende!] Empfindung für jenen Moment und jenen Ort zurückbehalten mussten, die uns jenen Einfall eingegeben hatten. 1.653f
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