Anfang April erst - nach den Osterferien! - schrieb N dem Onkel, Pfarrer Edmund Oehler, nach Gorenzen:
Lieber Onkel. Auch du hast mich zu meiner Konfirmation mit so herzlichen Glückwünschen begleitet und mit so schönen Gaben beschenkt. Ich sage Dir dafür meinen herzlichen Dank. Dieser ernste und heilige Tag möge mir in meinem ganzen künftigen Leben [denn derlei wollte der liebe Onkel hören!] immer vor der Seele schweben und mich an die feierlichen Gelöbnisse und Bekenntnisse erinnern, die ich damals [vor gut drei Wochen erst, aber hier klang es, als wäre es ewig her!] abgelegt habe! Auch Deine schönen Bücher mögen dazu beigetragen haben, das Gedächtnis an jenen wichtigen Augenblick zu erneuern [auch dabei dürfte die gewählte Vergangenheits form zu beachten sein!]. Den Hergang der feierlichen Handlung [der für N bereits „abgelegt“ war, denn das war auch ein psychologisch viel verratendes Wort!] will ich Dir mündlich einmal erzählen, denn ich hoffe sehr, dass wir uns nächste Hundstagsferien sehen, wenn auch nicht in Deinem lieben Gorenzen, so gern ich auch dort sein möchte, so doch auf einer gemeinsamen Reise nach Plauen, die Du, wie ich vom Onkel Theobald gehört habe, unternehmen willst. Ich befinde mich jetzt wieder in Pforta, nachdem ich die Ferien in Naumburg wohl verlebt habe. Ich bin jetzt Primus von Untersekunda, hoffe also, Michaeli [29. September] mit nach Obersekunda zu kommen ….. Es dankt Dir und denkt oft an Dich Dein Dich herzlich liebender FWN
Verglichen mit dem Gefühlsüberschwang, den N vor einem Jahr anlässlich der Konfirmation von Wilhelm Pinder aufzubringen in der Lage war, ist die seelische „Ausbeute“ zu seiner eigenen Konfirmation verdächtig mager, zumal es in den nächsten Tagen wegen Glaubensfragen mit der „Mamma“ zusätzlich ernsthaften Zoff geben wird. Es ist von erheblichem Aussagewert, dass es von N zu seiner Konfirmation keine mit seinen zuvor gemachten konfirmationsillusionären Aussagen auch nur entfernt vergleichbaren Worte gibt, - nur Schweigen über einen ernüchternde Realität gewordenen und damit entwerteten „Hergang“, den er verdrängte, - als wäre er eigentlich gar nicht geschehen. Ihn beschäftigten in etwa zu dieser Zeit oder nur wenige Wochen später die Schriften von Karl August von Hase, 1800-1890, Theologe, über das „Leben Jesu“ von 1854 und von Ludwig Andreas Feuerbach, 1804-1872, einem deutschen Philosophen, Religions- und Idealismus-Kritiker über „Das Wesen des Christentums“ aus dem Jahr 1841, wie N dies vor den Sommerferien einem Wunschzettel für den Geburtstag im Oktober anvertraute. BAW1.251.
Das Wenige, was sich, wie oben zitiert, in den Briefen von und an N - und nichts in seinen Notizen ! - zu seiner Konfirmation erhalten hat, legt nahe, dass Deussen weit mehr seine eigenen als Ns Empfindungen wiedergab, als er in Fortsetzung seines Berichtes über die Freundschaft mit N schrieb: Indessen hielt eine gewisse Gläubigkeit noch bis über das Abiturexamen hinaus stand. Untergraben wurde dieselbe unmerklich durch die vorzügliche historisch-kritische Methode, mit welcher in Pforta die Alten traktiert wurden und die sich dann ganz von selbst auf das biblische Gebiet übertrug, wie denn z.B. Steinhart [1801-1872, Altsprachenlehrer in Pforta] im Hebräischen in Prima den 45. Psalm durchaus als ein weltliches Hochzeitlied erklärte PDE.4[aber das wäre noch einige Jahre hin und dessen hat N nicht bedurft, um vom Glauben der Väter abzufallen. Er war - gefühlsmäßig! - auch ohne „geistig-wissenschaftliche“ Hilfe darüber bereits „hinweg“. Erst einmal ging es darum, im Herbst nach „nach Obersekunda zu kommen“.]
Unmittelbar anschließend an das Konfirmationserlebnis berichtete Deussen:
Während der ganzen Zeit in Schulpforta blieb die engere Freundschaft mit N bestehen, wenn auch nicht ohne vorübergehende Erschütterungen. Noch in Untersekunda [also irgendwann von Herbst 1860 bis Herbst 1861, aller Wahrscheinlichkeit um die Konfirmationszeit herum] bildete sich eine sogenannte forsche Clique, in der man rauchte, trank und Fleißigsein als unehrenhaftes Strebertum verurteilte. Auch wir wurden in ihre Netze gezogen, dadurch den andern näher und voneinander etwas weiter abgebracht. Für die Macht dieser Vorurteile mag ein Beispiel dienen. Wir hatten sonntagnachmittags von 2 bis 3 Uhr Arbeitsstunde für solche, welche den Nachmittagsgottesdienst nicht besuchen wollten [und zu denen N gehörte, - derzeit wegen einem offensichtlich nachlassenden Interesse an Gott].
Ich las gerade im Livius [Titus Livius, 59 v. C. - 17 n. C., ein römischer Historiker und Deussen las - „auf Lateinisch“ natürlich] den Übergang Hannibals über die Alpen und war davon so gefesselt, dass ich, als die Freistunde schlug und die andern ins Freie eilten, noch eine Weile zu lesen fortfuhr. Da kommt N herein, um mich abzuholen, ertappt mich über dem Livius und hält mir eine strenge Strafpredigt: „Also so treibst Du es und das sind die Mittel und Wege, welche Du in Anwendung bringst, um Deine Kameraden zu überflügeln und Dich bei den Lehrern in Gunst zu setzen! Nun, die andern werden es Dir wohl noch deutlicher sagen.“ PDL.70f u. PDE.4f
Was hatte der so sehr für die Selbständigkeit gepriesene N plötzlich mit „den Anderen“ derart innig zu schaffen?
Beschämt gestand ich mein Unrecht [das ja gar keines war] ein und war schwach genug, N zu bitten, den andern gegenüber das Vorkommnis zu verschweigen, was er versprach und auch gehalten hat. Aus jener Clique ging nach ihrem Zerfall eine Art Dreibund hervor zwischen N, mir und einem gewissen [Guido] Meyer, welcher schön, liebenswürdig und witzig, auch ein vorzüglicher Zeichner von Karikaturen war, aber mit Lehrern und Schulordnung in ewigem Kampfe lag. Noch in Obersekunda [es war in der Mitte von Unterprima] musste er abgehen. N und ich geleiteten ihn bis ans Tor und kehrten wehmütig um, nachdem er auf der Kösener Landstraße unseren Blicken entschwunden war. Dieser Meyer also war bis zu seinem Abgange [Anfang März 1863] im Jahr 1862 der dritte in unserm Bunde. Freilich musste ich mit Schmerz bemerken, dass dasjenige, was ich an N suchte und schätzte, sich sehr wenig vertrug mit dem, wozu Meyer ihn hinüberzuziehen bestrebt war. Dies ging so weit, dass die beiden eine Zeitlang meiner überdrüssig wurden und, ohne dass etwas Besonderes vorgekommen wäre, mit mir brachen. PDL.71 u. PDE.5
Hierzu gibt es in Pforta, wo keiner dem andern aus dem Wege gehen kann, das in seiner Art wertvolle und zweckmäßige Mittel des Tollseins. Man erklärt sich mit jemandem für toll, d.h. man betrachtet es als einen Ehrenpunkt, mit ihm nie und nirgends und unter keinen Umständen ein Wort zu sprechen. Wertvoll nannte ich dieses Mittel, weil es Schlimmeres, z.B. Raufereien und dergleichen verhütete. N und Meyer waren also toll mit mir. Sechs Wochen dauerte diese schwere Zeit und mit Freuden begrüßte ich die ersten Symptome einer Annäherung von der anderen Seite. Ich trieb ….. Italienisch, was nur dadurch möglich war, dass wir eine Stunde früher als die Anderen, also statt 6 schon um 5 Uhr aufstanden. Dies wurde natürlich als Strebertum vielfach verurteilt und bespöttelt. Meyer machte, wenn ich nicht irre, damals ein Spottgedicht auf mich, in welchem es hieß: Des Morgens früh beim ersten Grauen, Wenn alles noch im Schlaf sich wiegt, Da kann man schon den Spießer schauen, Wie er vom Schlafsaal runterkriecht, usw.
„Spießer“ (vielleicht verwandt mit Spießbürger [kleinlich denkender, engstirniger Mensch, ein studentisches Schimpfwort, eigentlich der mit dem Spieß bewaffnete, zu Fuß kämpfende Bürger; den abschätzigen Sinn erhielt das Wort durch den schlechten Ruf, den in älterer Zeit Landsknechte und Soldaten genossen]) ist in Pforta ein Scheltwort für solche, welche das Arbeiten in tadelnswerter Weise übertreiben. In dieser Zeit saß ich eines Abends kurz vor acht auf dem Korridor in der Nähe der Schulglocke und beobachtete die Uhr. Unter den auf und ab spazierenden waren auch N und Meyer. Plötzlich machten sie vor mir Halt und fragten „che ora è?“ [auf Italienisch: „Wie spät ist es?“] Überrascht antwortete ich „Otto ore, in tre minuti“ [Acht Uhr, in drei Minuten, was völlig richtig war], und lachend ziehen die beiden weiter [denn sie schienen tre minute verstanden zu haben, was Deussen sich nicht erklären konnte - und deshalb meinte:], indem sie darüber spotten, dass ich minuti [?] gesagt habe, da doch die Minute weiblichen Geschlechts sei PDL.71f u PDE.6f[aber nicht im Italienischen, was Deussens eigener Fehler dabei war. So irrten sie beide in diesen trivialen Belangen].
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