Die Zeit der Erfüllung christlicher „Normen“ war für N - ab etwas nach Ostern 1861 herum - so gut wie vorbei, - und für seine ersten unbedacht nach außen gedrungenen Anzeichen in diese Denk-Richtung hatte er zu Hause kräftig eins auf die Finger bekommen. So dürfte diese österliche Meinungsverschiedenheit mit der Mutter etwa zu deuten sein. Den Höhepunkt seiner illusionären Lust an christlicher Ergebenheit hatte er im Jahr zuvor überschritten und folglich war die ernüchterte Abwendung unausweichlich. Eine selbstkritisch geführte Auseinandersetzung mit dem „Problem“ fand allerdings auch in seinen persönlichen - für und vor sich selbst! - gemachten Aufzeichnungen nicht statt. Ns Gefühlslage hatte sich - im Zuge der Pubertät mit veränderten Hormonpegeln! - gewandelt ! Sie stand von nun an eher in Meyers Anhängerschaft, auf der Basis einer kritisch verbessernden Betrachtungsweise des Weltgeschehens. Was N in schwärmerischen Empfindungs-Visionen gegenüber Wilhelm Pinder zu dessen Konfirmation vor einem Jahr noch selbst hatte erleben , d.h. bei ihm vor allem fühlen wollte, hatte sich in der „ Realität “ als unerreichbar und vor allem über den „Moment“ hinaus als nicht „haltbar genug“ erwiesen und war damit „erledigt“, abgelegt, unbrauchbar, abgetan! Er musste sich neuen, unbewiesenen und un verbrauchten Illusionen zuwenden. Dergleichen hat er dann mit seiner anbetenden Verherrlichung Schopenhauers und auch Wagners wieder erleben müssen, nach gleicher, hier gewissermaßen vorgegebener „Regel“. Doch vorher passierte ihm noch der Eintritt Emersons in sein Bewusstsein und das sollte etwas ganz Anderes, ihn nämlich körperlich viel Treffenderes gewesen sein! Doch davon zur angemessenen Zeit der sommerlichen Ferienreise.
Im nächsten Brief an die Mutter, Ende April 1861, schrieb N noch:
Liebe Mamma [und für ein Jahr lang ist es einer der letzten Briefe, die Mutter so vertraut anzusprechen]. Es war doch gestern wunderhübsch in Almrich; wenn wir uns nur längere Zeit hätten sprechen können; die Zeit ist mir allzu schnell vergangen. Aber ich denke mich nächstens einmal loszumachen, damit ich auch wieder einmal [im ihm eigentlich unbekannten] zu Hause sein kann. Ich schicke euch heute meine Kiste; sendet sie mir sehr bald wieder; mir fehlt immer noch mein Stiefelknecht. Dann sendet mir meine Lebensbeschreibung, die in dem grünen Kasten liegt; ich brauche sie jetzt zu einer [neu?] anzufertigenden Lebensbeschreibung [was Zufall sein könnte! Dennoch scheint es bedenkenswert, dass N in der Phase der Abkehr von „alten Gewohnheiten“ zuerst einmal geneigt war, seine Selbstbespiegelung im neugewonnenen Licht zu üben; - was ja nicht mit Selbst kritik zu verwechseln ist!]. Auch meine Wäsche sendet mir gleich mit, besonders Taschentücher, da mein Schnupfen sonst gar nicht aufhört. Dann auch das versprochene Geld; auch meine Zahnbürste ist mir fortgekommen. Ich weiß nicht, wohin sie sein mag. - Nun weiß ich eigentlich nicht mehr recht, was ich schreiben soll. Wir haben uns ja gestern alles mitgeteilt ….. Noch eine Bitte: Ich habe gar kein Notenpapier in Pforta! Holt mir welches von Merzyn, groß und recht englinig. Sendet es mir auch mit heraus! Dein FWN
So strich der Alltag des Lebens mit allerlei Bedarf auch schwierige Lebensphasen einebnend dahin.
Nachdem Gustav Krug seinen Freunden bereits im März „einen Vortrag über »einige Szenen von Tristan und Isolde«“ J1.90gehalten hatte, schrieb er an N am 15. April 1861 aus Naumburg:
Lieber Fritz! Vielen Dank für Deinen Brief, der mich zur rechten Zeit mahnt, wieder ein paar Worte an Dich zu richten ….. Gleich am Ende der Ferien schickte ich Tristan und Isolde wieder zurück, von dem Du leider ungefähr nur [am Klavier vorgetragen!] die Hälfte gehört hast. Gerade der 2te und 3te Akt sind wunderschön, obgleich der 2te anfangs nicht recht verständlich ist und etwas ermüdet. Bei mehrmaligem Hören aber erkennt man erst die großen Schönheiten und man könnte wohl sagen, dass der 2te Akt den Kulminationspunkt der Oper bildet. Ich hoffe mit Dir Tristan und Isolde in Weimar zu hören, wie ich glaube auf der Tonkünstlerversammlung, die der neuesten musikalischen Zeitung zufolge vom 3.-8. August in Weimar stattfinden wird ….. [daraus aber ist nichts geworden.]
Ich habe mit unserem Musikalienankauf eine Änderung getroffen, die hoffentlich Deine Billigung erhalten wird, ich habe nämlich die vierhändige Einleitung zu Tristan meinem Papa überlassen und daher nur 1 Taler 10 Sgr [Silbergroschen] verbraucht, das übrige Geld kann ich, wenn Du Noten ankaufst noch dazu geben, damit wir etwas mehr bekommen und nicht auf 1 Taler und 15 Sgr beschränkt sind ….. nächstens erscheint nämlich die Faust-Symphonie von Liszt in Leipzig bei Schubert in Partitur und 2- und 4-händigem Arrangement (der Preis ist noch nicht bestimmt, ich werde ihn Dir, wenn ich wieder an Dich schreibe, berichten) …..
Da ich einmal bei Faust bin ….. Jedenfalls werde ich meinen Faust nicht in mehrere Teile teilen [wie Liszt es in seiner Faustsymphonie tat] ….. sondern ich werde [bei eigenem Komponieren!] die 3 Hauptpersonen in Berührung mit einander bringen, je nach dem es die Handlung mit sich bringt, ohne mich jedoch nach Goethe zu viel zu richten ….. Deinen Plan das Werk [Ns „Weihnachtsoratorium“] mit einer Fuge zu schließen billige ich und ziehe es dem Tode der 12 Könige vor, weil erstens, wie Du selber richtig bemerkst, dieser Schluss für ein so freudenreiches Oratorium nicht geeignet sei und zweitens der Tod der Könige nicht recht zum Ganzen passt und doch nur eine Nebensache ist. Ich rate Dir aber nicht gar zu viel Fugen anzubringen, da dies leicht ermüdet und oft einen trockenen Eindruck macht. Verarbeite lieber die Themen recht geschickt und bringe nur manchmal ein Fugato [ein Musikstück mit fugenartigem Anfang] an. Am Schluss jedoch ist eine freie große Fuge am rechten Platz und macht [wie von N immer gewünscht!] einen großen erhabenen Eindruck. Ich will den Statuten unserer Germania gemäß einige Musikalien nennen …..
Gustavs Krugs, wie auch Wilhelm Pinders Briefe unterscheiden sich von denen Ns grundsätzlich durch die überall durchscheinende Rücksichtnahme auf Umstände, die sie im Gegensatz zu N in der Wirklichkeit dieser Welt wahrnahmen und dies auch zeigten; - ein Element, das N so gut wie vollständig fehlte. Bei N ging es immer darum, dass die Dinge so wären , wie Er sie sah - die „Fähigkeit“, seine Umwelt unabhängig von sich selbst zu erkennen, besaß er nicht! Er war immer der Gefangene seiner selbst. Auf Veranlassung von Gustav Krug ist da also die erste Begegnung mit Wagners „Tristan“ abgeschlossen und verklungen; - ohne nennenswerte, jedenfalls nicht erhalten gebliebene, Resonanz und Reaktion seitens N. Es wird noch einige Zeit dauern, bis N Wagners „Tristan“ - aber als was? - zu schätzen lernte. In erhalten gebliebenen Briefen erwähnt N Wagners „Tristan“ erstmals im Oktober 1868, - also erst kurz bevor er in Leipzig Richard Wagner durch einen günstigen Zufall persönlich kennenlernen sollte!
Ende Mai schrieb Gustav Krug wieder an N, ein dazwischen liegender Brief Ns an Gustav Krug ist nicht erhalten geblieben:
Lieber Fritz! Vor allem herzlichen Dank für Deinen lieben Brief, der mir alle bisherigen und wieder neue Vorschläge gebracht hat. So viel wir im Voraus bestimmen können, würden Mittwoch und Sonnabend, ersterer als Hauptsynodentag [der „Germania“] und letzterer als Stiftungsfest für unsere Verhältnisse ganz passend sein, also mag es vorläufig bei diesem Beschluss verbleiben. Was das Einbinden der Aufsätze, Übersetzungen etc. betrifft, so sind wir damit einverstanden, es kann dieses ja mit in die Bibliothek aufgenommen werden, über deren Gründung wir uns in den Ferien näher besprechen wollen ….. [N war also organisatorisch in Anspruch genommen, das „Germania“-Forum als Bühne für seine Selbstdarstellung auf „Schulgesetzliche“ Weise zu stabilisieren].
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