Gerade als sie ansetzte, antwortete er aber doch. »Ich habe Ihren Vater nach Hause gefahren und er hat mich zu einer Partie eingeladen. Das konnte ich unmöglich ausschlagen.« Dann sah er sie an, sein Blick war ihr ein wenig unangenehm. »Vorhin wirkte er aber noch überzeugter von sich selbst.« Er lachte. Kein besonders angenehmes Lachen, wie Leonie fand. Es klang irgendwie wie ein Raubtier.
»Sie spielen wohl sehr gut«, gab sie diplomatisch zurück. Tatsächlich glaubte sie aber, dass selbst ein Huhn Michael hätte besiegen können. Vor diesem Tag wäre sie nicht einmal davon ausgegangen, dass Michael überhaupt wusste, was Schach ist.
»Ich habe auch vom Meister gelernt.« An Richmonds Tonfall konnte Leonie genau erkennen, von wem er sprach. Inzwischen hatte sie genügend Stimmen, alle mit dieser Bewunderung darin, über Daniel Donovan sprechen hören. Schach konnte er also auch noch spielen. Konnte der Mann eigentlich irgendetwas nicht?
Leonie antwortete nicht. Sie wartete und beobachtete. Als die Glocken läuteten kam ihr der Kirchturm wieder in den Sinn und ohne darüber nachzudenken platzte es aus ihr heraus: »Chief Richmond, was ist eigentlich hinter diesem anderen Hügel? Dem, um den die kleine Straße führt.« Sie deutete in verschiedene Richtungen, bis sie die fand, von der sie glaubte, dass es die richtige war.
Richmond sah sie plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde so irritiert an, dass Leonie erschrak. Dann, ebenso plötzlich, wandte er sich wieder ab und sagte beiläufig: »Felder, wieso?«
»Felder?«, fragte sie verdutzt.
»Ja, Schafe grasen da. Du weißt schon.« Er sprach, als interessierten ihn seine Worte selbst nicht besonders. »Unser Doctor Steward hält dort seine Herde.«
Leonie hatte etwas Spektakuläreres erwartet. Warum hatten Rachel und Tony so seltsam reagiert? Eine Schafherde war nun wirklich nichts, was man verstecken musste, oder? Auf kuriose Weise enttäuscht, wandte sich Leonie wieder der Spielsituation zu, an der sich während des gesamten Gesprächs nichts geändert hatte. Wenn man es überhaupt »Spiel« nennen wollte. Eigentlich war es eher ein Gemetzel. Die letzten Figuren ihres Vaters wurden gnadenlos vom Brett gestoßen, wie über den Rand einer Klippe. Es dauerte keine fünf Minuten mehr, bis Michael geschlagen war. Richmond hatte nicht einmal die Hälfte seiner Figuren eingebüßt, als er als Sieger her-vorging. »Das war unterhaltsam«, sagte er, sich vom Stuhl erhebend, nachdem er endgültig seinen Kaffee geleert hatte. Er schien jedes Mal nur genippt zu haben, andernfalls war es unmöglich so lange für eine einzige Tasse zu brauchen. Leonie musste zugeben, dass er bei der Dauer von Michaels Zügen mit Rationierung durchaus gut beraten war.
»Eine Revanche?«, fragte Michael hoffnungsvoll, während in seiner Tochter jede Hoffnung starb, heute noch eine Unterhaltung mit ihm führen zu können.
Zu ihrem Glück antwortete Richmond aber: »Ein andermal gern«, klaubte seine Mütze vom Tisch und versteckte sein wirres, dunkles Haar darunter. »Das heißt, falls Sie sich trauen.« Er schüttelte Michael die Hand und ging. In der Tür fügte er leise hinzu: »Auf Wiedersehen, Miss Fitzpatrick« und war verschwunden. Draußen hörte Leonie einen Motor und das Geräusch eines davon fahrenden Autos. Erleichterung überfiel sie. Michael saß zusammengesunken vor seinem Schachbrett und stellte fein säuberlich alle Figuren zurück auf ihre Plätze.
Leonie sah ihre Chance gekommen. Sie hätte mit allen möglichen Vorwürfen und aufgeregten Fragen beginnen können, entschied sich aber für die gelassene Variante. »Wie war dein Tag, Daddy?« Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch, den Kopf auf die Hände und setzte einen Blick auf, der möglichst danach aussehen sollte, als würde sie die Antwort auf diese Frage tatsächlich erfahren wollen.
Ihr Vater hätte, ebenso wie sie, alles aufzählen können, seinen plötzlichen und ziemlich unhöflichen Aufbruch am Morgen, die Tatsache, dass er auf einmal den Beruf gewechselt hatte, oder den Umstand, dass der Polizeichef, der diesen Titel wohl nur zu dekorativen Zwecken trug, ihn herumchauffierte. Aber all das sagte Michael nicht. »Ich war bei Doctor Donovan.« Er deutete auf den Zettel auf dem Kühlschrank, auf dem sein Termin vermerkt war. Darauf hatte Leonie bisher gar nicht geachtet, wie ihr jetzt auffiel.
Der Termin, natürlich. Über all das Gerede über den Bürgermeister hatte sie vollkommen ausgeblendet, dass er eigentlich ein Arzt war. Da zermarterte sie sich das Hirn über einen guten Vorwand, um Daniel besuchen zu können und was war die einfachste Möglichkeit, einen Arzt zu treffen? Einen Termin zu machen und sich behandeln zu lassen! Sie hätte den Kopf auf den Tisch zimmern können.
»Und, wie war´s?«, fragte sie und versuchte die unfassbare Neugierde in ihrer Stimme zu verbergen.
Michael sah sie mit einem neuen Blick an, den sie überhaupt noch nicht an ihm gesehen hatte. Bei Rachel allerdings schon. Und eine Variation sogar bei Thomas Richmond. »Eine Offenbarung, Leonie. Es war unglaublich«, sagte Michael und erzählte.
Die Tür öffnete sich und der Mann betrat das geräumige Büro, im zweiten Stock des Rathauses. Der andere Mann, der vor dem großen, kreisrunden Fenster an der Wand gegenüber stand, durch das das Licht sich seinen Weg hinein bahnte, wandte sich um und begrüßte ihn freundlich. Bücherregale zierten die Wände und ein großer, dunkler Schreibtisch trennte einen gemütlich wirkenden Sessel für den Gast von dem des Gastgebers. Der bedeutete dem Besucher, sich zu setzen und tat es ihm gleich. Das große Glas befand sich nun neben ihnen und das Licht stach Michael in den rechten Augenwinkel. Donovan blinzelte nicht einmal. Er musterte seinen neuen Patienten. »Schön, dass Sie gekommen sind, Mister Fitzpatrick. Haben Sie den Umzug gut überstanden?«
»Ich denke schon. Danke«, entgegnete Michael.
Donovan lächelte. »Ich sage Ihnen, was wir heute tun werden.« Er öffnete eine Schublade, aus der er einen aus Holz gefertigten Gegenstand, bedeckt mit schwarzen und weißen Quadraten, hervorholte und mittig auf dem Tisch platzierte. Michael holte im Gegenzug lediglich einen verständnislosen Blick hervor. »Schach. Wissen Sie, wie man es spielt, Mister Fitzpatrick?« Donovan öffnete eine Klappe an der Unterseite des Brettes und ließ eine ganze Armee aus winzigen Bauern, Türmen, Springern, Läufern und zwei Königsehepaaren herausfallen.
Michael war verwirrt. Wieso wollte er Schach mit ihm spielen? War das hier nicht eine Therapiesitzung? Michael hatte das letzte Mal vor gefühlten hundert Jahren gespielt – gegen seine Frau. Sie war sehr gut darin gewesen. Er weniger. Aber das war gewesen, bevor alles zu Bruch gegangen war. Ihre Liebe zu ihm, ihre Familie, einfach alles. »Die Grundlagen vielleicht. Nicht sehr gut, ehrlich gesagt«, murmelte er.
Donovan schien das absolut gleichgültig zu sein. Er platzierte sein Heer und bedeutete Michael, dasselbe mit seinem zu tun. An die Aufstellung konnte dieser sich immerhin noch erinnern, nur die richtigen Positionen des Königs und der Dame wollten ihm nicht einfallen. Stand nun der König links oder rechts? Donovan bemerkte seine Ratlosigkeit. »Die Dame liebt ihre Farbe«, erinnerte er Michael. Der stellte also seinen weißen König auf das schwarze Feld und die Dame auf das weiße. So standen sie den schwarzen von Donvoan genau gegenüber und das Spiel konnte beginnen. »Weiß zieht zuerst, aber warten Sie noch einen Moment, Mister Fitzpatrick.« Er entledigte sich des braunen Jacketts, das Michael für einen Therapeuten sowieso etwas klischeehaft fand, und krempelte die Ärmel seines dunklen Hemds über seine kräftigen Unterarme. Mit nun deutlich erkennbaren Muskeln wirkte er überhaupt nicht mehr wie ein Therapeut. Eher wie ein Berufsboxer. »Ich erkläre Ihnen jetzt die Regeln. Abgesehen davon, dass wir hier klassisches Schach spielen – ich denke die Regeln werden Ihnen während des Spiels klar werden, wenn Sie sich nicht mehr erinnern –, habe ich noch eine weitere.« Er öffnete die Vitrine an der Wand hinter sich, die von dicken Schmökern umrahmt war und holte zwei Gläser und eine volle Flasche Whiskey heraus. Er schenkte beiden ein und fragte erst danach: »Wollen Sie?« Michael trank selten, Scheidung hin oder her, und Whiskey war ihm immer zu stark gewesen, doch es erschien ihm unhöflich das gefüllte Glas abzulehnen.
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