Ein ohrenbetäubendes Dröhnen entfuhr dem Instrument, als der Junge die Tasten betätigte. Würden sie Kirchenlieder singen wollen? Das wäre problematisch gewesen, Leonie konnte sich mit Mühe gerade mal den Text von Amazing Grace merken, was eigentlich schade war, denn das Lied gefiel ihr sehr.
Doch Kirchenlieder spielte Tony nicht. Stattdessen erklang das mächtigste Jazz-Solo, das Leonie in ihrem ganzen Leben je gehört hatte und je hören würde. Wer sagte, eine Kirchenorgel könne man nicht zum swingen bringen, hatte Unrecht. Tony konnte es. Leonie hätte das selbst nie für möglich gehalten, aber der schwere, drückende Klang, den sie mit dieser Art Instrument bisher immer verbunden hatte blieb aus. Der Rhythmus, der durch die heiligen Hallen hämmerte war unwiderstehlich und Leonie musste sich unwillkürlich dazu bewegen. Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass sie mit diesem Verlangen nicht allein war. Rachel hatte die Kanzel und die anderen den Bereich vor dem Altar bereits in ihre ganz eigenen Tanzflächen verwandelt. Einige von ihnen begannen im Takt zu klatschen, doch bei so wenigen Händen musste das Geräusch im wenig sakralen Klang der zahllosen Pfeifen unweigerlich untergehen. Leonie konnte nicht besonders gut tanzen, aber das war ihr in diesem Moment vollkommen egal. Sie verlor sämtliche Hemmungen und ihre Beine taten was sie wollten. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Tony holte alles menschenmögliche aus dem Wunderwerk der Handwerkskunst heraus und machte den Moment zum genauen Gegenteil eines langweiligen Gottesdienstes. Rachel kam tanzend zu ihr herunter und strahlte sie an. Leonie strahlte zurück. So merkwürdig ihr das ältere Mädchen auch vorgekommen war, für dieses Erlebnis hätte Leonie sie küssen können. Im Gegensatz zu ihr wusste Rachel genau, wie man sich zu dieser Musik bewegte. Sie machte einen Schritt nach dem anderen, als wäre es so einfach wie zu atmen und vollführte gekonnt eine Drehung, bei der sich der Rock ihrer Uniform gefährlich weit hob. Irgendeiner der Jungs pfiff anerkennend, dankbar für den Einblick. Rachel lachte über Leonies Blick und nahm sie bei der Hand. Gemeinsam versuchten sie eine Art Paartanz, der vermutlich nicht besonders elegant aussah, Leonie dafür aber umso mehr Spaß bereitete. Die anderen bildeten einen Kreis um sie und klatschten anfeuernd in die Hände. Leonie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so vergnügt hatte. Wäre es nach ihr gegangen, hätte es ewig so weiter gehen können.
Nach einer ganzen Weile legte Tony schließlich eine Pause ein, was absolut nachvollziehbar war; Leonie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie er nach diesem Spiel noch immer über zehn Finger verfügen konnte. Nachdem er das Lied mit einem dramatischen Schlussakkord beendet hatte und die Orgel schwieg, fielen Leonie und Rachel erschöpft auf die vorderste Bank und atmeten auf. »Macht ihr das öfter?«, fragte sie und hoffte insgeheim, das von jetzt an täglich tun zu können. Rachel erwiderte mit einem energischen Nicken. Ihrem schweren Atem nach zu urteilen war sie noch nicht wieder in der Lage zu sprechen. »Und man hat euch noch nie erwischt?«
»Noch nie. Die Orgel hört man draußen so gut wie nicht und in die Kirche kommt nie jemand. Außer uns natürlich.« Rachel röchelte noch immer; derjenige, der Leonies Frage beantwortet hatte, war Tony gewesen, der plötzlich in der Reihe hinter ihnen saß. Er war ein schlanker, dunkelhaariger Junge mit braunen Augen, der in dem weißen Poloshirt und der Stoffhose ein wenig aussah wie ein langgezogenes Marshmallow. Aber er hatte ein nettes Lächeln.
»Das war übrigens großartig«, sagte Leonie an-erkennend und zeigte auf die Orgel in seinem Rücken.
Er winkte ab, als wolle er kein Lob hören und erzählte ihr stattdessen seine Lebensgeschichte: »Ich hab damals bei Pfarrer Carlow schon gespielt, aber nur das Kirchenzeug. Als er weg war, bin ich ab und zu her gekommen und hab gespielt was ich wollte. Tja und dabei hat mich Rachel eines Tages erwischt. Aber Rachel, was wolltest du damals überhaupt hier?« Rachel und er lachten, wie alte Bekannte, die sich an etwas erinnerten, was vor sehr langer Zeit geschehen war.
»Seitdem machen wir das, wann immer wir Lust dazu haben«, ergänzte Rachel und lächelte den anderen zu, die sich mittlerweile auch zu ihnen gesellt hatten, sodass die erste Bankreihe komplett gefüllt war. Wenn alle hier Rachels Überzeugung teilten, würde bei einem spontanen Gottesdienst in Balling's Cape wohl nicht einmal diese Anzahl zusammenkommen, vermutete Leonie.
Sie konnte nicht anders, als noch eine Frage zu stellen: »Und Dan … ich meine, Doctor Donovan? Was würde der davon halten?«
Rachel sah zu Tony hinüber. »Solange wir hier nicht auf den Knien herumrutschen und den Herrn anbeten, wird´s ihn schon nicht stören, schätze ich.« Er zeichnete bei dem Wort »Herrn« Gänsefüßchen in die Luft und Rachel und die anderen kicherten.
Ihr Großvater, überlegte Leonie, der jeden Sonntag in die Kirche ging, obwohl er morgens kaum aus dem Bett kam und sich ständig über seine schlimme Hüfte beklagte, hätte ihn dafür wahrscheinlich umgebracht. Über diesen Gedanken musste Leonie unweigerlich lachen und machte es den anderen nach.
Sie saßen noch eine ganze Weile in der Kirche und Leonie verstand sich mit jeder Sekunde besser mit ihren neuen Klassenkameraden. So schnell hatte sie noch nie zuvor Freunde gefunden. Auch wenn Rachel, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, erneut die Unterhaltung dominierte und fast mehr mit sich selbst als mit den anderen zu reden schien, fühlten sich dennoch alle wohl. Sie lauschten gerne ihren übertriebenen Kommentaren und wenn Leonie ganz ehrlich sein sollte, fand auch sie die inzwischen ganz schön witzig.
Leonie wurde genötigt, noch einmal von ihrer seltsamen Ankunft zu berichten, ganz so, als könnten die anderen nicht genug über die Stadt hören, in der sie ihr Leben verbrachten. Diesmal machte ihr das überhaupt nichts mehr aus. Sie berichtete sogar von Chief Thomas Richmonds Besuch, plötzlich erschien er ihr als wichtiger Bestandteil der Geschichte.
»Und er stand plötzlich einfach hinter dir?« Rachels Hundeaugen waren Leonie schon gigantisch vorgekommen, doch die grünen von Miriam, einem dunkelhaarigen Mädchen, das immer zu starren schien, egal was sie ansah, übertrafen alles.
»Ja«, antwortete sie. »Ich hab überhaupt nicht gehört, wie er reingekommen ist.«
»Chief Richmond, wie er leibt und lebt. Nach einer Weile sieht man den gar nicht mehr. Er ist wie ein Schatten!« Tony machte eine raubtierhafte Geste in Rachels Richtung, die gespielt zurückschreckte und schauspielerisch seufzte.
Ein blonder, unscheinbarer Junge mit grauen Augen namens Jack warf Leonie einen wohlwollenden Blick zu. »Der spinnt.« Er deutete auf Tony, der ihm ein Nicken schenkte, als würde er diese Aussage bedenkenlos unterstützen. »Wegen Richmond muss man sich wirklich keine Sorgen machen.«
»Genau, der ist zahm wie ein Hund«, witzelte Rachel, während sie von Tony gekitzelt wurde.
Die Ironie, die darin lag, dass sie gerade diesen Vergleich wählte brachte Leonie erneut zum Schmunzeln. »Hat der hier überhaupt Arbeit? Ich meine, er sagte hier gab´s seit fünf Jahren keine Einbrüche mehr«, rief sich Leonie in Erinnerung und klang sehr nachdenklich als sie sprach.
»Stimmt. Überhaupt keine Verbrechen. Genau so lange, wie Doctor Donovan hier ist.« Der Stolz in Rachels Stimme, den jeder in Balling's Cape an den Tag zu legen schien, wann immer Daniel erwähnt wurde, war unverkennbar.
»Viel passiert hier wirklich nicht. Richmond hockt meistens mit Doctor Donovan im Rathaus.« Jack schien das witzig zu finden.
»Die sind beste Freunde, wenn man so will.« Tony legte einen Arm um Rachel. »Genau wie wir, nicht wahr, Kleines?« Sie tat so, als versuche sie sich zu entwinden, doch jeder erkannte sofort, dass sie sich Tonys Berührung nur zu gerne gefallen ließ.
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