Trotzdem: Michael war Lehrer?
»Aber meine kleine Schwester ist ganz allein zu Hause«, stellte Leonie aufgeregt fest. Sie wollte nicht noch einmal für Sophies Verschwinden, oder Schlimmeres, verantwortlich sein.
»Da mach dir mal keine Sorgen, dein Vater hat einen Nachbarn gebeten, auf sie aufzupassen, hat er gesagt.« Das beruhigte Leonie zwar nur oberflächlich, aber so war es immerhin nicht ihre Schuld, wenn das Kind verhungerte. Das war trotzdem kein schöner Gedanke.
Sie passierten die Statue und erreichten die Treppe rechts von ihr, Elvas warf einen verehrenden Blick auf den Mann aus Metall, der genauso gut von Leonie hätte stammen können. Dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre neueste Schülerin. »Erster Stock, Raum L. Wie Leonie.«
Leonie konnte nicht fassen, dass diese Frau diesen Satz gerade wirklich ausgesprochen hatte, reagierte aber nicht darauf. Sie stieg hinauf, nachdem Elvas ihr einen kräftigen Schubs gegeben hatte, der absolut nicht notwendig gewesen wäre. Als Leonie sich noch einmal umdrehte war die Dicke schon wieder verschwunden. Wie schnell sie sich bewegen kann, rätselte Leonie. Ihre ganze Person erinnerte sie an eine schrullige Frau aus einem Zeichentrickfilm. Fehlte nur noch, dass sie anfing ein Lied zu schmettern.
Kopfschüttelnd erklomm das Mädchen die Stufen.
Raum »L« verfügte über die gleiche Eichentür wie alle anderen Räume auch. Sie kam Leonie riesengroß und einschüchternd vor. Sie klopfte drei mal, ehe sie die Klinke betätigte. Diesmal waren wirklich diverse Augenpaare auf sie gerichtet und sie dankte Gott, dass sie in diesem Moment angezogen war. Bitte lass' das wirklich den richtigen Raum sein, flehte sie und schloss bedächtig die Tür hinter sich, ehe sie sich vorstellte. Sie schaute dabei auf den Boden. »Hallo, ich bin Leonie Fitzpatrick. Misses Elvas hat mich her geschickt.« Sie hob unsicher eine Hand zum Gruß und dann ihren Blick. Sämtliche Schüler zeigten ein interessiertes Lächeln, aber die waren zweitrangig.
Leonie hatte eine Art Déjà-vu.
Vorgestern hatte sie gedacht einen griechischen Gott vor sich zu haben – diesmal erblickte sie Venus höchstpersönlich. Die war zwar römisch, aber das war irrelevant. Die Frau, die aussah wie gemalt, richtete das Wort an das schweigende rothaarige Mädchen in der Tür: »Guten Tag, Leonie, schön, dass du da bist.« Ihre Stimme war Musik und ihr Haar – das sie zu einem eleganten Zopf geflochten hatte – war so golden, wie die Sonne über dem Meer in der Karibik, dessen Blau dem ihrer Augen glich. So blau, wie Ozeane. Wie der Himmel. So glänzend, wie Saphire. Dort stand die schönste Frau, die Leonie je gesehen hatte. Die irgendjemand je gesehen hatte. Das Mädchen musste sich das eingestehen – wohl oder übel. »Mein Name ist Anna, Leonie, und du kannst mich ruhig so nennen, wir nennen uns hier alle beim Vornamen.« Sie blickte in die Klasse. »Stimmt´s?«
»Ja, Anna!«, erklang ein eher erbärmlicher Chor aus neun Stimmen, einer sehr kleinen Klasse, wie Leonie fand, doch ihr Blick war noch immer an die Lehrerin geheftet. Anna war in einen schwarzen Bleistiftrock, der ihr nicht ganz bis zu den Knien reichte, und eine ärmellose Bluse gekleidet, deren obersten Knöpfe nicht geschlossen waren, sodass ein hübsches Halsband zu erkennen war. Das Band in ihrem Haar war schwarz – wie die Ränder ihrer Augen. So elegant, geschweige denn sexy, kleidete sich nicht einmal Leonies Mutter, die als Anwältin nicht unbedingt bekannt dafür war, in Mausgrau bei ihren Prozessen aufzukreuzen. Michael hatte Leonie einmal versichert, einige Leute ließen sich nur verklagen um Jennifer Fitzpatrick anschauen zu können, während sie sie hinter Gitter brachte. Ihre Mutter hatte gelacht und ihn geküsst.
Leonie musste ein paar mal blinzeln, um aus dieser Erinnerung in die Gegenwart zurückzukehren.
Als wäre Anna nicht schon schön genug gewesen, hatte sie lächerlich lange, schlanke Beine, einen unwahrscheinlich wohlgeformten Körper, weiche, rosige Wangen und ein so süßes Lächeln, dass es schon beinahe redundant war. Gott musste vergessen haben die Flügel anzubringen und hatte die Frau versehentlich zur Erde geschickt, anstatt sie über die Menschen wachen zu lassen.
Unter anderen Umständen hätte Leonie Anna womöglich für sympathisch gehalten, aber irgendetwas, was sie nicht recht erklären konnte, hinderte sie daran.
Die junge, blonde Frau, die leicht für zwanzig durchgegangen wäre, deutete auf einen freien Platz neben einem dunkelblonden Mädchen, das freudig ein Gesicht machte, das Leonie an einen hechelnden Hund erinnerte. »Nimm doch neben Rachel Platz«, sagte Anna. Wenn sie sprach, dachte man an eine sanfte Gitarrenmelodie.
Leonie tat wie geheißen. Sie bahnte sich rasch einen Weg vorbei an den wenigen Tischen und plumpste auf den leeren Stuhl. Als sie sich nach links wandte, sah sie sich von den größten Glubschaugen, die sie je gesehen hatte, angestarrt.
»Rachel?«, fragte Leonie und zog ihren Pferdeschwanz über die Schulter nach vorn. Das Mädchen, dessen Haar wie glattgebügelt aussah, nickte energisch, hielt sich dann aber grinsend einen Finger vor die Lippen. Hat sie mir gerade gesagt, ich soll den Mund halten?, fragte Leonie sich selbst.
Anna nahm den Unterricht nicht gleich wieder auf, stattdessen suchte sie den Dialog mit ihrer neuen Schülerin. Leonie wusste noch nicht, wie sie das fand. »Möchtest du uns etwas über dich erzählen, Leonie?«
Wenn ich etwas zu erzählen hätte, bestimmt, dachte sie, doch ihr fiel nichts ein, was in irgendeiner Form interessant gewesen wäre. »Ich komme aus Canberra. Ich bin mit meinem Vater hergezogen.« Sie sah sich um, alle Augen waren gespannt auf sie gerichtet. Sie fühlte sich durchleuchtet. Anna setzte sich auf ihr Pult, während Leonie erzählte und legte im Schoß die weichen Hände übereinander. »Wir sind gestern erst angekommen. Mein Vater arbeitet jetzt wohl hier.« Leonies Stimme wurde immer dünner, doch es schien erwartet zu werden, dass sie mehr erzählte, also fügte sie alles hinzu was ihr in den Sinn kam. »Ich hab' eine kleine Schwester, Sophie, die ist zwei – und schläft den ganzen Tag – « Anna lachte. Leonie stutzte. Es war ein fürchterlich herrliches Geräusch. Wie Glockenklang im Wind. Das Mädchen fuhr fort. »Unser Haus gefällt mir gut ... darf ich fragen, welches Fach wir eigentlich gerade haben?« Jetzt lachte die ganze Klasse. Ihre Sitznachbarn schienen es als Witz aufgefasst zu haben, also fiel Leonie nach einem Moment mit ein und sie kicherten alle gemeinsam. Das fühlte sich gar nicht schlecht an.
Es stellte sich heraus, dass sie sich im Englischunterricht befanden. Zumindest war das der Schluss, zu dem Leonie kam. Sie erhielt einen schlicht gestalteten Band mit dem Titel Die schönsten Märchen von A bis Z, der alle erdenklichen Geschichten enthielt, die Leonie als Kind geliebt hatte, aber auch solche, von denen sie noch nie gehört hatte. Sämtlich Kindergeschichten, begriff Leonie nicht gleich, was damit zu tun war. Sie vermutete eine stundenlange Analyse, philosophische Deutungen oder sonst was, die einem den ganzen Spaß an den schönen Geschichten nahmen. Leonie stellte sich bei solchen Aufgaben stets eine Sektion vor. Aber Anna verlangte nichts dergleichen. Anstatt den Inhalt des Buches zu zerreden, taten sie nichts anderes, als darin zu lesen. Mal abwechselnd laut, mal leise für sich und dann sollten sie einige Lieblingszitate heraussuchen, aber auch damit war nichts weiter anzustellen.
Während Anna selbst einen Auszug aus »Rotkäppchen und der böse Wolf« vorlas – und jedes Hörbuch hätte von ihr gelesen werden sollen, wie Leonie feststellte – erklang ein Klingeln und unterbrach die Lehrerin unhöflich. In einer synchronen Bewegung erhoben sich neun von nunmehr zehn Schülern. Nur Leonie blieb natürlich auf ihrem Stuhl kleben, die sich fragte was geschah. Anna winkte sie mit einem gütigen Lächeln zur Tür. Eine Strähne rutschte ihr in die Stirn und sie schob sie hinter ihr Ohr zurück. Selbst das macht sie viel anmutiger, als ich, dachte Leonie und folgte den anderen hinaus.
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