Blieb nur noch die Frage, wie die Sachen überhaupt in ihr Zimmer gefunden hatten. Leonie glaubte nicht an Wichtel, also blieben nur noch Michael oder der chronisch unterbeschäftigte Chief Richmond. Letztere Möglichkeit erschien ihr dann doch eher abwegig. Ganz zu schweigen von unheimlich.
Nachdem sie sich gewaschen, die Uniform übergezogen und ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebändigt hatte, klopfte sie, diesmal sehr zaghaft, an Michaels Tür. In ihrem neuen Outfit fühlte sie sich, dafür, dass es sich um eine Schuluniform handelte, überraschend wohl und die Schmerzen in ihren Knochen waren verflogen. Sie hatte ohnehin hervorragend geschlafen, Gartenstuhl hin oder her. Jetzt bin ich zu Hause, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären wo dieser Gedanke hergekommen war.
Michael öffnete nicht.
Leonie klopfte erneut, diesmal lauter, doch im Zimmer blieb es still. Sie schaute hinein, da lag aber nur Sophie in ihrem Bettchen und schlummerte, unbehelligt vom Leben. »Na, hast du vielleicht Daddy gesehen?«, flüsterte Leonie. Wie erwartet antwortete das Kind nicht und lutschte weiter am Daumen.
Leonie schloss leise die Tür, zuckte die Schultern und lief beschwingt die Treppe hinunter um in der Küche nachzusehen. Doch von ihrem Vater fehlte auch dort weit und breit jede Spur. Immerhin hat er alle Kartons nach oben gebracht, stellte Leonie fest und begann sich ein Frühstück zu machen. Er würde schon wieder auftauchen. Und er war nicht der Typ, der sich aus Kummer etwas antun würde. Hoffte Leonie wenigstens.
Die Küche und die Zeit gaben zwar nur ein Sandwich her, aber Leonie war absolut zufrieden damit. Es war bereits nach acht, wie ihr die große Küchenuhr verriet, die Michael, wann auch immer, angebracht hatte und deren Platz schon in Canberra stets der über dem Kühlschrank gewesen war, wo sie sich auch jetzt wieder befand. Da Leonie weder Michaels Zeitplanung, noch seinen Aufenthaltsort kannte, verkniff sie sich ein ausgiebiges Frühstück. Außerdem fühlte sie sich in ihren weißen Kleidern leicht, schlanker denn je und pudelwohl. Ein Englisches Frühstück könnte dieses Gefühl zerstören. Ein Sandwich dagegen wohl kaum.
Mampfend saß sie am Küchentisch, die Morgensonne im Rücken, und schaute auf ihr Handy, um festzustellen, dass der Empfang noch immer nicht vorhanden war. Sie hatte ja auch noch keine Beschwerde eingereicht. Also was soll´s, dachte sie und verschlang ihr Essen. Für Leonies Verhältnisse war das ein sehr diplomatischer Gedankengang. Noch vor ein paar Tagen wäre sie zur Furie geworden, wenn das Internet nur für eine Minute ausgefallen wäre. Heute dagegen störte es sie so gut wie überhaupt nicht. Auch dass sie ihre Mutter hatte anrufen wollen, war längst schon wieder vergessen.
Als Michael um halb neun noch immer nicht aufgetaucht war, beschloss Leonie kurzerhand einfach aufzubrechen. Sie würde die Schule schon finden und Balling's Cape wirkte, als könnte man in einer halben Stunde von einem Ende der Stadt zum anderen gelangen, also sollte Leonie Zeit satt haben und pünktlich um neun Uhr zum Unterricht erscheinen können. Sie holte ihre Schultasche aus ihrem Zimmer, überlegte kurz, ihr Bett zu machen, erklärte es sich selbst als zu anstrengend und flitzte die Treppe hinunter. Sie war schon im Begriff das Haus zu verlassen, als ihr etwas einfiel. Sie kehrte um, nahm einen Stift aus ihrer Tasche und schrieb, in noch größeren Buchstaben als es ihr Vater getan hatte, auf den Zettel am Kühlschrank:
DAS BABY NICHT VERHUNGERN LASSEN
Zufrieden und mit einem Grinsen im Gesicht ließ sie die Haustür hinter sich ins Schloss fallen.
»Entspannte Aufregung« war tatsächlich der richtige Ausdruck um Balling's Cape am Morgen zu beschreiben. Die Straßen waren zwar nicht menschenleer, aber in etwa so überfüllt wie der wolkenlose Himmel über Leonies Kopf, von dem die Sonne bereits jetzt gnadenlos hinunter brannte. Das Stillleben, das die Stadt am Vortag noch gewesen war wachte allmählich auf. Hier und da rollte langsam ein Auto dahin und der ein oder andere Passant ging vorüber. Einen Bürgersteig gab es nicht, die ganze Stadt schien eine große Fußgängerzone zu sein und man ging und fuhr unbehelligt mitten auf der Straße. Wenn sich einmal eines der wenigen Autos näherte, gab es weder ein Hupen, noch ein überstürztes Ausweichmanöver oder einen Streit, sondern nur ein Lächeln und eine freundliche Begrüßung, ehe man gelassen beiseite trat.
Beeindruckt tat Leonie es ihren neuen Nachbarn gleich. Schlendernd wählte sie zunächst dieselbe Strecke, die sie am Vortag in die Innenstadt geführt hatte. Einige Radfahrer passierten sie und Leonie drückte sich an den Straßenrand, um einen Wagen vorbei zu lassen, dessen Fahrer ihr freundlich winkte. Leonie lächelte zur Antwort und ging weiter. Da sie aber eigentlich blind einem Weg folgte, an dessen Ende sich ihr Ziel womöglich gar nicht befand, steuerte sie nach einer Weile einen Mann an, der in einem flauschig aussehenden Bademantel auf seiner Terrasse saß, die Beine übereinandergeschlagen, und genüsslich einen Kaffee schlürfte. Neben ihm in der Einfahrt seines Hauses parkte ein makellos polierter silberner Rolls Royce. Leonie hatte eine Schwäche für schöne, alte Autos. Vielleicht fragte sie deswegen gerade diesen Herrn. Sie traute sich nicht, die Stufen der kleinen Treppe hinauf und einfach auf sein Grundstück zu spazieren, sprach ihn also vom Straßenrand aus an.
»Entschuldigen Sie, Mister?« Der Mann blickte zu ihr hinunter und musterte sie. Er hatte dunkles Haar, das langsam aber sicher heller zu werden schien. Eine filigrane Brille, die ihm ständig von der markanten Nase zu rutschen drohte schob er regelmäßig mit einem Finger zurück in Position. Er erwiderte nichts, bedeute ihr aber mit einer wohlwollenden Handbewegung ihre Frage zu stellen. »Können Sie mir erklären, wo ich die Schule finde? Balling's Cape High?«
»Balling's Cape High«, sagte er bestätigend, trank einen großen Schluck Kaffee und blickte in den Himmel, als würde er sich seine Antwort gerade ausdenken. »Hab ich mir fast gedacht.« Er deutete auf Leonie. Klar, natürlich kannte er die Uniformen. Wie blöd von mir, dachte sie. »Da folgen Sie der Straße, Miss, bis zur zweiten Kreuzung. Dann gehen Sie links.« Er nahm geräuschvoll noch einen Schluck und stellte seine Tasse auf einem kleinen Holztisch ab. Dann stand er auf und untermalte die Wegbeschreibung, indem er die Straße hinunter deutete. »Dann an der Kirche vorbei und geradeaus. Dauert keine zehn Minuten bis Sie da sind, Miss.«
Ich hab´s gewusst, dachte Leonie, sagte aber: »Vielen Dank.«
»Ich hab Sie hier noch nie gesehen«, bemerkte der Mann, als Leonie schon im Begriff war dem beschriebenen Weg zu folgen. Er musterte sie neugierig, mit in den Manteltaschen vergrabenen Händen. Seinen Kaffee schien er vergessen zu haben.
»Ich bin gestern erst angekommen. Wir sind neu in der Stadt.« Leonie bemühte sich um Höflichkeit.
Der Mann beäugte sie einen Moment und warf einen kurzen Blick die Straße hinauf, als würde er nachdenken. »Na dann herzlich willkommen, Miss. Ein hübsches Kind wie Sie tut der Stadt sicher gut«, strahlte er sie an, mit einem Lächeln, das in seiner Jugend vermutlich einmal charmant gewesen war, Leonie aber an ihren Großvater erinnerte. Den, der immer Dinge sagte wie »Du musst mehr essen, du fällst noch vom Fleisch, Mädel« oder »Zieh was Anständiges an, willste wie eine Dame von Welt aussehen, oder wie ein Flittchen aus der Gosse?«, worauf ihre Großmutter sich verschluckte und ihn anklagend und nach Luft schnappend ansah, insgeheim aber genau dasselbe dachte wie er. Leonie konnte beide nicht leiden. Zum Glück lebten sie in Irland und sie traf sie nicht allzu oft, ein Umstand, für den sie sehr dankbar war.
Man musste ihrem Nachbarn aber zugutehalten, dass er längst nicht so alt war, wie ihr Großvater. Leonie wollte ihn dennoch nicht zum Freund.
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