Doch zurück zur missglückten Vorführung des Stöckchen-Kunststückes. Als der Stuhl, auf dem Gorm saß, nach hinten zu kippen drohte durch den Aufprall von Brans schwerem Körper, aber noch mehr durch den Rückstoß, der entstand bei seinem panikartigen Absprung von Gorms Schoß, löste sich dieser endlich aus seiner Erstarrung, krallte sich an der Tischkante fest und konnte so den Sturz verhindern.
„Wo kommt dieses runde, rollende Ding her?“ schrie er und Thyra zog unwillkürlich den Kopf ein, ihre neuesten Kreationen waren alle kugelig. Gelber, klebriger Honig floss träge über den Boden und Gorm stand noch immer mittendrin, ohne sich zu rühren. Er atmete schwer, seine Augen funkelten und man sah ihm deutlich an, dass er nach weiteren Worten rang. Da ihm aber nichts einfiel, stieß er einen wütenden Schrei aus, der wie ein fürchterlicher Fluch klang. Dann stakste er mit weitausholenden Schritten aus dem Haus hinüber zum Brunnen, zog Wasser in einem Eimer hoch und spülte die süße Masse ab. Mit finster entschlossenem Blick ging er zurück.
„Thyra,“ sagte er, „du bekommst einen eigenen Raum … für dich und deine Töpferei. Hier ist es zu eng geworden … vor allem mit diesen dickbauchigen, runden Dingern, die du neuerdings machst. Sie sind lebensgefährlich!“
Niemand wagte zu widersprechen.
Gleich am nächsten Tag machte Gorm sich auf in den Wald, fällte junge, nicht zu dicke Bäume, entfernte alle Äste und schnitt sie in der richtigen Länge zu, dann schleppte er sie einzeln den weiten Weg nachhause. Das war äußerst anstrengend, nach dem zehnten Stamm brauchte er dringend eine Pause. Schweren Schrittes ging er zur Wiese, wo Beo die Haustiere hütete.
„Geh so viel Weidenzweige schneiden, wie du tragen kannst,“ sagte er zu ihm, „Bran kann alleine aufpassen.“
Als Beo außer Sichtweite war, ließ sich Gorm ins Gras fallen, streckte alle Viere von sich und war im Nu tief und fest eingeschlafen.
Beo starrte gedankenverloren auf den Haufen Zweige vor sich. Inzwischen war er in seinen Überlegungen vorangeschritten: Sowohl rund als auch eckig hatte Vor- und Nachteile - das Entscheidende war, herauszufinden, wann und in welcher Situation das eine oder andere besser war. Man brauchte sich nur an das Vorhaben erinnern, das Dorf mit einer Steinmauer zu umgeben, was seinerzeit gescheitert war, weil es weit und breit keinen Steinbruch gab und nur Geröll aus dem Fluss zur Verfügung stand.
„Zum Mauerbauen braucht man eckige Steine, aus diesem runden Zeug können wir sie nicht herstellen, also müssen wir uns mit einem Palisadenzaun begnügen“, hatte Gorm achselzuckend gesagt.
Eine vage Idee vor Augen, drehte Beo einige biegsame Stecken umeinander, befestigte sie, steckte nach und nach weitere hinzu, bog das Ganze schließlich zu einem Kreis und umwickelte es mit Lederstreifen. Nun, das Ding war rund – ob es auch rollte? Er gab ihm einen kräftigen Schubs – und es funktionierte genauso, wie er es sich vorgestellt hatte. Der Weidenzweig-Reifen rollte eine kleine Weile geradeaus, dann stieß er an ein Hindernis und kippte zur Seite. Beo schnürte die restlichen Zweige zu einem dicken Bündel zusammen, hievte es auf seinen Rücken, hielt mit der Linken das Ende des Bandes fest und hatte Mühe, mit der Rechten den schweren, sperrigen Reifen, der fast so hoch war wie er selber, zu transportieren.
Trotz dieser Erschwernis ging er nicht geradewegs nachhause, sondern machte einen kleinen Umweg. Schon von weitem hörte er das vertraute scheppernde Meckern der Ziegen, und dann kam auch schon Bran mit einem kurzen Begrüßungs-Beller herangestürmt. Beo ließ seine Lasten zu Boden fallen und kraulte ihn liebevoll hinterm Ohr.
„Jetzt pass mal gut auf,“ sagte er stolz und setzte seinen Reifen in Bewegung. Auf der ebenen Wiese rollte er eine ganze Weile, während Bran neben ihm herlief, dann verlor er an Geschwindigkeit, kam ins Trudeln und kollabierte – Bran brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. Beim nächsten Versuch lief auch Beo neben dem Reifen her und gab ihm, kurz bevor er zu kippen drohte, einen neuen Stoß. Ein wunderbares Spiel, Beo war begeistert und rollte seinen Reifen durch die wild auseinanderstiebenden und laut protestierenden Schafe und Ziegen. Selbst die sonst eher behäbigen und schwer aus der Ruhe zu bringenden Schweine galoppierten quietschend und mit flatternden Ohren davon. Eins lief ihm direkt vor die Füße, Beo sah seinen Reifen davonrollen – und im gleichen Moment Gorms Kopf aus dem Gras auftauchen und sich die verschlafenen Augen reiben. Halb im Tran sah Gorm etwas Großes auf sich zurasen und sich vor ihm auftürmen, dann stürzte es auf ihn – und Gorms Kopf war wieder verschwunden.
„Oh, oh, oh!“ Beo rannte zu seinem Vater, das Schlimmste befürchtend.
Gorm hatte indes das schwere Ding von sich gewälzt, sich aufgesetzt und massierte die schmerzende Stelle an der Stirn.
„Das glaube ich einfach nicht,“ polterte er mit verkniffenen Lippen, sprang auf die Füße, stemmte die Arme in die Seiten und ging um das merkwürdige Gebilde, das ihn niedergestreckt hatte, herum.
„Schon wieder was Rundes, was Rollendes … wie immer, wenn mir nichts Gutes widerfährt. Ich hasse es!“
Und zu Beo gewandt: „Schaff‘ es mir aus den Augen … und beschäftige dich gefälligst mit was Nützlichem!“
Beo blieb nichts anderes übrig, als seine schier unerschöpflichen Phantasien bezüglich Rundem und Rollendem in aller Heimlichkeit und fernab von seinem Vater zu verwirklichen. Der Wald war, seit er Weidenzweige schneiden musste, kein Sperrgebiet mehr für ihn, und bei einem seiner Streifzüge entdeckte er die kleine Lichtung, auf der sein Vater Baumstämme zersägt hatte. Einige Endstücke lagen vergessen herum. Prompt regte sich sein Erfindergeist: Er sammelte sie ein und legte sie dicht nebeneinander. Dann schleppte er einen schweren Stein heran, band eine Schnur darum und legte ihn auf die Rollen. Er zog an der Schnur – es war kinderleicht, der Stein ließ sich mühelos fortbewegen – aber nur bis zum letzten Holzstück. Was nun? Beo war ein gescheiter Kerl, nachdem er mehrmals um sein Werk herumgelaufen war und angestrengt nachgedacht hatte, fiel ihm auf, dass hinter dem Stein mehrere Hölzer frei lagen, die konnte man doch vorn wieder anlegen, oder?
„So könnte ich den ganzen Tag Steine bewegen, ganz ohne Anstrengung“, dachte er staunend und war sehr stolz auf sich. Gleich morgen würde er das Transportband seinem Vater vorführen – wenn das nichts Nützliches war!
Gorm war früh aufgestanden, lange bevor die Sonne aufging. Noch wichtiger als Thyras neue Wohnung war die Beschaffung von frischem Fleisch, deshalb wollte er heute einen Hirsch erlegen. Dazu mußte er quer durch den Wald bis zur dahinter liegenden weiten Ebene, wo sie oft dichtgedrängt im Familienverband in den frühen Morgenstunden grasten. Im Wald war es stockduster und so sah Gorm auch nicht die geniale Erfindung seines Sohnes, sondern trat direkt darauf. Es zog ihm die Füße weg und mit Getöse rutschte er den Abhang runter, auf dem Rücken und dessen Verlängerung. Durch das Gepolter und Gorms Schmerzensschreie hellwach, stob das Rotwild in vollem Galopp davon. Rund war teuflisch, das stand fester denn je für Gorm. Hätte der Mond heute Nacht geschienen, hätte er diese Baumstämme gesehen und wäre nicht mit ihnen weggerollt – blöder runder Mond!
Grün und blau, mit brennenden Abschürfungen am ganzen Körper, humpelte Gorm zornschnaubend den Hügel wieder hinauf durch den Wald nachhause.
„Wo ist Beo?“ brüllte er schon von weitem.
Und dann brüllte Beo, weil Gorm ihm eine runtergehauen hatte. Dann brüllte Hel, aufgeschreckt durch diesen Radau, und schließlich brüllte Nelda, sie sollten alle auf der Stelle aufhören zu brüllen.
Diesmal hing für eine ganze Weile der Haussegen schief und Beo ging seinem Vater wohlweislich aus dem Wege. Der saß, zugeschmiert bis zur Unkenntlichkeit mit Neldas Kräutersalben im Haus, damit ihn niemand von den Nachbarn sah, und spießte Blaubeere um Blaubeere auf lange Stengel – zur Regeneration seines lädierten Körpers und zur Beruhigung seiner Nerven, wie Nelda behauptete.
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