«Lass das!», schimpfte Vati, «du machst den Bildschirm ganz schmutzig. Komm setz dich zu Mutti.»
«Sanimann furt gange!», meinte Moni, als das Sandmännchen auf seinem Koffer wegflog und den Kindern Sand in die Augen streute, um anzuzeigen, dass es jetzt Zeit war, dass die Kinder ins Bett gingen.
Ab jetzt versammelte sich die Familie immer um diese Zeit vor dem Fernseher. Sogar das Nachtessen wurde verschoben, wenn es Mutti nicht rechtzeitig schaffte, weil sie später nach Hause kam, dann wurde eben später gegessen, aber das Sandmännchen durfte man nicht verpassen. Meistens waren auch Gerd oder andere Freunde da, um das Sandmännchen zu gucken.
Eine Woche später montierte Vati unter dem Dach auch eine Antenne, mit der man das Westfernsehen empfangen konnte. Westfernsehen durfte man allerdings nur schauen, wenn keine Nachbarskinder da waren. Für alle Bürger der DDR war Westfernsehn strengstens verboten. Da konnte man schnell in die Fänge der Stasi kommen und das wollte keiner. Gute Sozialisten waren nur die, die bedingungslos die Gesetze der DDR befolgten.
Auch das Sonntagsprogramm der Familie Thom wurde durch das Fernsehen neu gestaltet. Es war zwingend, dass man um halb vier Uhr sich vor dem Fernseher versammelte, dann erzählte Meister Nadelöhr seine Geschichten, die musste man unbedingt sehen, sonst konnte man am Montag in der Schule mit den andern Kindern nicht diskutieren.
Mit dem Fernseher hielt auch die Politik in die Stube der Familie Thom Einzug. Nun wurden täglich die Nachrichten geschaut. Einmal auf dem staatlichen DDR-Sender und später, im Westfernsehen. Dieter war zu der Zeit bereits am schlafen. Den Buben war nicht entgangen, dass Vati sich über die Meldungen des offiziellen DDR-Senders ärgerte, auch wenn er dies zu verbergen suchte.
An einem Tag im Frühling kam Vati sehr aufgeregt nach Hause. Mürrisch zog er sich in den Garten zurück. Die Buben kannten ihn gut genug, wenn er so war, musste man ihn in Ruhe lassen, bis Mutti nach Hause kam, die würde ihn schon beruhigen.
Beim Nachtessen geschah etwas Ausserordentliches. Vati erzählte von seiner Arbeit, etwas das er sonst nie machte.
«Der Sohn vom Krüger ist in den Westen abgehauen», erzählte er. Dieter wusste, dass der Herr Krüger, Vatis bester Freund beim Zoll war, «das gab ein Theater! Krüger wurde zum Chef zitiert, dort wurde er zusammengestaucht. Doch das ginge ja noch. Plötzlich tauchten zwei Fupo im Büro des Chefs auf und führten Krüger, in Handschellen ab. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah, sie führten ihn wie ein Schwerverbrecher ab.»
«Die wollten sicher nur ein Protokoll aufnehmen», versuchte Maria Vati zu trösten, «der wird sicher wieder freigelassen.»
«Eben nicht, seine Frau hat angerufen und gefragt, wo er sei», erklärte Vati den Tränen nahe, «das machen sie mit allen Verwandten von Flüchtlingen so. Markus kennt auch eine Familie deren Tochter abgehauen ist, er wurde seit drei Wochen nicht mehr gesehen. Man munkelte, er sei in ein Gefängnis der Stasi gebracht worden.»
«Was ist Stasi?», fragte Dieter.
«Das ist die Staatssicherheit Polizei», erklärte Vati, «die sind genauso schlimm wie die Gestapo im Krieg. Einer hatte erzählt, dass die Häftlinge sehr schlecht behandelt werden.»
Später, als es Zeit war für die Nachrichten, sass die Familie immer noch vor dem Fernseher. Nur Moni war schon am schlafen. Die Meldung des Tages war der Raumflug von Juri Gagarin. Den Russen gelang der erste bemannte Weltraumflug. Das war natürlich das Ereignis des Tages. Die Sowjets wurden gelobt und die Amerikaner lächerlich gemacht. Der Sozialismus hatte gezeigt, was in ihm steckt, da konnten die Imperialisten nicht mithalten.
Gegen Ende der Nachrichten gab es auch noch einige Meldungen aus Deutschland. Der Sprecher schilderte wie wichtig es sei, die Ziele des Fünfjahresplans einzuhalten. Es wurden mehrere Firmen ausgezeichnet, welche die Firmenziele übertroffen hatten. Die besten Arbeiter erhielten einen Orden für die geleistete Arbeit.
Vati musste sich wieder zusammennehmen. Auch wenn er sich ebenfalls über den Raumflug freute und ein bisschen Stolz auf die Leistungen des Sozialismus war, verfinsterte sich seine Miene sofort wieder, als der Sprecher auf die Innlandpolitik zu sprechen kam.
International war natürlich auch die Lage auf Kuba ein Thema. Fidel Castro hielt eine Rede an sein Volk. Der Sprecher erklärte, dass das Kubanische Volk die volle Unterstützung des sozialistischen Deutschlands habe. Man muss den Imperialismus bekämpfen.
«Die fangen sicher noch einen Krieg an!», kommentierte Vati die Meldungen, «die Amerikaner werden es sich nicht leisten können, einen sozialistischen Staat direkt vor der Haustüre zu haben. Hoffentlich wird da Deutschland nicht hineingezogen».
«So genug!», erklärte Mutti, «ihr geht jetzt ins Bett, Vati braucht noch etwas Ruhe.»
Sowohl Dieter als auch Wolfi sahen ein, dass Vati heute einen schweren Tag hatte. Sie zog sich auf ihr Zimmer zurück. Ihr Held war Juri Gagarin, wenn ihnen auch die Ereignisse in Kuba ebenfalls etwas angst machten.
Vier Tage später wurde im Fernsehen der sozialistische Sieg in Kuba gross gefeiert. Die Lage entspannte sich. Noch wurde zur Wachsamkeit aufgerufen, doch die Amerikaner waren fürs erste moralisch geschlagen. Bei Familie Thom konnte man wieder zur Tagesordnung übergehen.
Am 12. August mussten sich alle Zollbeamten für einen Sondereinsatz bereithalten. Das Büro blieb geschlossen, die Zollbeamten mussten alle am späteren Abend zum Dienst erscheinen.
«Ich weiss nicht was dies soll?», erklärte Vati, als er sich von Mutti verabschiedete, «die führen etwas im Schilde, nur weiss ich nicht was.»
«Versuche ruhig zu bleiben», Mutti gab ihrem Siggi einen Kuss, sie spürte, dass er am liebsten zuhause bleiben würde.
Am Abend schaute Mutti mit den beiden Buben die Nachrichten. Es wurde wieder über die Landesverräter hergezogen, welche ihr Vaterland verrieten und sich von der Propaganda verlocken liessen und in den Westen abhauten.
Endlich waren die Buben im Bett und Mutti wollte sich noch eine Sendung im Westfernsehen anschauen. Doch plötzlich ging die Türe und Vati trat ein. Maria merkte sofort, dass etwas Schlimmes vorgefallen war. Siggi war nur noch ein Häufchen Elend. Sie holte ihm ein Bier und möglichst wenig Schaum.
«Lass das, ich darf jetzt nichts trinken», erklärte Siggi, «meine Kariere als Zollbeamter ist ab heute beendet. Ich soll mich morgen bei der Reichsbahn melden. - Um sechs Uhr im Hauptbahnhof in Halle.»
«Aber warum?», wollte Maria wissen.
«Ich habe mich geweigert beim Bau der Mauer zu helfen!», erklärte Siggi, «entschuldige, ich konnte einfach nicht, ich musste ein Zeichen setzen! Die können nicht alles mit mir machen.»
«Was für eine Mauer?», fragte Maria besorgt.
«Die beginnen heute Nacht, eine Mauer um Berlin zu bauen, damit keiner mehr nach Westberlin fliehen kann, morgen werden sie es sicher in den Nachrichten bringen.»
«Eine Mauer um ganz Berlin?»
«Ja, Westberlin wird vollständig abgeriegelt, da kommt keiner mehr durch, zumindest, wenn die Mauer fertig ist.»
«Und was wird jetzt aus dir?», fragte Maria besorgt.
«Ich muss in Zukunft bei der Reichsbahn arbeiten. Es wird sicher nicht einfach für uns, entschuldige! Das Gehalt wird viel tiefer liegen als beim Zoll und die Arbeit viel härter. Ich konnte einfach nicht an dieser Mauer mithelfen, das ging einfach nicht!»
«Das verstehe ich», erklärte Maria, «komm, lass uns schlafen, morgen sieht alles wieder besser aus.»
«Das glaube ich nicht, die haben mich als Landesverräter beschimpft. Vielleicht muss ich noch ins Gefängnis, mit Landesverrätern gehen die nicht freundlich um.»
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