„He, gut gemacht, Raba! Sieh nur, sie hat den Übeltäter erwischt! Und ihn dir als Friedensangebot überbracht! Du musst sie loben.“
Jessy schaute in die gelben Augen, die erwartungsvoll auf sie gerichtet waren. Die Hündin leckte sich über die großen Zähne und wedelte leicht mit dem Schwanz.
„Und sie wird mich auch nicht beißen?“ fragte sie. Die Erinnerung an die erste Begegnung mit diesen Kampfmaschinen jagte ihr noch immer einen Adrenalinstoß durch den Körper.
„Sicher nicht. Du musst es ihr nachsehen, sie kennt keine Frauen. Da war sie wohl etwas misstrauisch.“
Zögernd streichelte Jessy den kräftigen Hals der Hündin und diese begann ihr die Hand zu lecken. Also herrschte wohl wirklich Frieden zwischen ihnen.
„Warum das denn nicht? Mögen die Frauen in der Eisenfaust keine Hunde?“
„Das kann ich dir ehrlich gesagt nicht beantworten“, sagte Dennit schulterzuckend. „Ich kenne nicht besonders viele Frauen.“
Jessy grinste. „Kaum vorstellbar.“
Die Art wie Dennit beinahe verschämt den Kopf senkte und lächelte, ließ Jessy schmerzhaft erkennen, dass er große Ähnlichkeit mit David hatte. Das gleiche jungenhafte Benehmen, die Witze, die gute Laune, die freundlichen braunen Augen. War sie deshalb so gerne in seiner Gesellschaft? Gefahr für das Herz hatte man ihr vorausgesagt.
Denk nicht daran, mahnte sie sich. Es hatte zu lange gedauert David und das ganze schmerzhafte Ende ihrer Beziehung aus ihrem Kopf zu verdrängen. Sie wollte jetzt nicht wieder damit anfangen, sich zu fragen, warum alles so schief gegangen war. Und Dennit – er war so nett, so aufrichtig. Nicht die Art Mann, die einer Frau wirklich gefährlich werden konnte.
Mittlerweile hatte Raba sich entspannt hingelegt und ließ sich von Jessy kraulen. Besonders viele Streicheleinheiten bekamen die Hunde wohl nicht, immerhin lebten sie in einem Zwinger. Das Gefühl noch eine Freundin gefunden zu haben, tat ihr gut.
„Und solche Frauen wie dich habe ich überhaupt in ganz Westland noch nicht gesehen“, setzte Dennit das Gespräch fort. Jessy lachte.
„Ist das jetzt eine Beleidigung oder ein Kompliment?“
„Nein, nein, ich meine es nicht böse. Nur kommt es bei uns nicht oft vor, dass eine Frau ihre Meinung so laut und deutlich sagt und sich für Dinge einsetzt. Du verteidigst Albin, wann immer er Hilfe braucht, das sehen alle. Und du hast den Mut, dich mit Rheys anzulegen. Das wagen nicht viele. Du bist sehr mutig. Wenn man bedenkt, dass du fremd bist – und allein.“
Jessys Lächeln erlosch. „Ich bin gar nicht mutig“, sagte sie leise. „In Wahrheit habe ich Angst. Aber ich will mich nicht von ihr beherrschen lassen. Ich bin völlig hilflos hier bei euch und muss mich auf das verlassen, was man mir sagt. Wenn ich anfange, mich zu fürchten, gebe ich die Zügel vollends aus der Hand, verstehst du. Solange ich klar denken kann, entscheide ich auch selbst.“
„Sieh mal an“, rief Dennit plötzlich und kam behände auf die Füße. „Da sind Rheys und Bosco und bringen die Zimmerleute mit.“
Während Bosco den Männern zeigte, wo sie gebraucht wurden, stieg Rheys vom Pferd. Raba hob den Kopf von Jessys Schoß, machte aber keine Anstalten, ihren Platz zu verlassen.
„Wo ist der Junge?“ fragte er ohne ein Grußwort.
„Ist noch nicht aufgetaucht“, antwortete Dennit.
„Das dachte ich mir. Es musste ja so weit kommen“, brummte Rheys. „Völliger Irrsinn, ihn auf so ein Pferd zu setzen. Wenigstens hat er sich nicht den Hals gebrochen.“
„Sollen wir ihn nicht suchen gehen? Er ist bestimmt völlig verzweifelt. Vielleicht traut er sich nicht, zurück zu kommen“, meinte Jessy.
Rheys starrte auf sie hinunter und musterte sie und den dösenden Hund streng.
„Was machst du da?“
„Ich streichle einen Hund. Ist das verboten?“
„Das ist ein Arbeitstier, kein Schoßhündchen. Sie werden nicht verhätschelt.“
„Natürlich hat er was dagegen“, sagte Jessy verschwörerisch zu Raba. „Wenn man keinen hat, der einem den Rücken krault, weiß man nicht, was einem entgeht. Aber du magst es, nicht wahr?“
Bevor Rheys fortfahren konnte, rief Bosco vom Wagen herüber: „Ich glaube, da ist er!“
Und tatsächlich. In der Ferne war Lia zu sehen, die sich entspannt ihren Weg durch das Kornfeld bahnte und reiterlos zu ihren Herren zurückkam. Albin war zurück geblieben und rührte sich nicht vom Fleck. Wahrscheinlich hatte er wirklich Angst. Vor allem, da er das Pferd nicht gefunden hatte.
Jessy stand auf. „Ich werde mit ihm reden“, sagte sie.
„Nein, warte“, sagte Bosco, der zu ihnen herüber gekommen war. „Rheys, du solltest gehen.“
„Was?“ fragten Jessy und Rheys wie aus einem Mund, beide gleich bestürzt über diesen Vorschlag. Bosco schaute seinen Freund vielsagend an.
„Du weißt doch, was man sagen muss.“
Rheys seufzte und wand sich einen Moment. Zum ersten Mal entdeckte Jessy, dass er sich offenbar unwohl fühlte. Er scharrte mit den Stiefeln auf der Erde und rieb sich mit der rechten Hand über den Nacken. Noch nie zuvor hatte sie auch nur die Spur von Unsicherheit an ihm gesehen.
„Meinetwegen“, murmelte er und stieg auf sein Pferd, trieb es zu einem leichten Trab an und entfernte sich schnell in Albins Richtung.
„Oh Bosco!“ rief Jessy. „Er wird ihm den Hals umdrehen!“
„Nein, wird er nicht. Du kennst ihn nicht. Er ist kein Ungeheuer. Zumindest nicht die ganze Zeit. Und er weiß genau, was der Junge durchmacht.“
„Das bezweifle ich“, sagte sie spöttisch. Rheys war sicher niemals ein stiller kleiner Junge ohne Selbstbewusstsein gewesen.
„Oh doch“, antwortete Bosco. Lia war zu ihnen heran gekommen und begrüßte Jessy, indem sie ihre weiche Nase auf ihre Schulter legte.
„Komm, wir reiten ins Dorf, die kommen hier ohne uns zurecht. Ich erzähle dir auf dem Weg eine kleine Geschichte.“
Jessy stieg in den Sattel und zusammen folgten sie der Straße in Richtung des Dorfes. Sie wusste nicht, ob sie irgendetwas über Rheys erfahren mochte, das ihn ihr sympathischer machte. Falls es solche Fakten über ihn wirklich gab.
„Als Rheys ins Kriegerlager kam, war er neun. Viel jünger als die anderen, ich selbst war zwölf und Kaj vierzehn. Und er war klein, fing erst spät an zu wachsen. Sein Vater war in der Armee und kaum jemals zu Hause. Seine Mutter war im Kindbett gestorben und er wuchs bei seiner Tante auf, die ihn eigentlich nur fütterte und im Stall mithelfen ließ. Das einzige was er wollte, war ein Krieger werden um seinem Vater zu imponieren. Ein großer Krieger. Deshalb wartete er nicht, bis er alt genug war, sondern kam alleine nach Ovesta, den ganzen weiten Weg von der Nordküste. Als er ankam war er Haut und Knochen und schmutzig wie ein Erdferkel. Aber was unter dem Dreck zum Vorschein kam, hat alle beeindruckt. Bis auf seinen Vater. Er kam ihn niemals besuchen und schickte keine Briefe. Im Nordlandkrieg ist er gefallen ohne auch nur zu ahnen, dass sein Sohn einer der besten Krieger unseres Landes geworden war.“
„Kein Wunder, dass er ein Herz aus Stein hat“, sagte Jessy.
„Jedenfalls versteht er Albins Lage besser, als jeder andere. Und vor allem besser als du. Du bist bestimmt von Geburt an geliebt und geachtet worden, nicht wahr?“
Damit hatte er Recht.
„Von mir aus“, gab sie zu. „Dann soll er Albin eben trösten. Aber ich habe trotzdem kein Mitleid mit ihm. Eine tragische Kindheit ist keine Entschuldigung für permanente Unhöflichkeit und Feindseligkeit.“
„Also was Starrsinnigkeit betrifft stehst du ihm jedenfalls in nichts nach“, sagte Bosco und gab ihr einen Stoß gegen die Schulter, der sie fast aus dem Sattel warf.
„Wie ist dieses Dorf?“ fragte sie um das Thema zu wechseln. Die Sonne ging schon unter und sie hatte großen Hunger und freute sich auf den Gasthof.
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