Rheys wollte losstürmen und das ganze beenden. Tychon hielt ihn zurück und redete leise auf ihn ein. Sicher wollte er seine Schwester nicht vor diesen Leuten bloßstellen. Das war sehr fair von ihm. Doch die Zuschauer hatten selbst begriffen, dass da etwas Aufregendes vor sich ging und tuschelten. Um die Szene zu entschärfen forderte der Prinz ein junges Mädchen auf, das vor Freude beinahe ohnmächtig wurde.
Albin starrte Amileehna an, seine Hände waren zu Fäusten geballt. Ob er jemals den Mut aufbringen würde, um diese Frau zu kämpfen, die er so anbetete? Er hatte schon sein Leben für sie riskiert. Schwieriger konnte es nicht werden. Doch Amileehna bemerkte ihn überhaupt nicht. In dem Augenblick, als ihr Versteck bekannt geworden war und sie Albin nicht mehr als Verbündeten brauchte, schien sie ihn völlig vergessen zu haben.
Jessys Magen fühlte sich ein wenig flau an und die Menschenmenge wurde ihr plötzlich zu viel. Sie stand auf und peilte einen stillen Winkel neben der Werkstatt eines Schmieds an, wo sie kurz für sich sein konnte. Sie schwitzte in dem geliehenen Kleid, das zu eng war und außerdem hatte sie zu viel gegessen. Das Bier war ihr zu Kopf gestiegen. Sie sollte sich wohl besser schlafen legen. Aber die Nacht war so schön und das Fest machte ihr Spaß.
„Verdammtes verrücktes Pack“, murmelte jemand neben ihr und sah, dass Rheys den gleichen Gedanken gehabt hatte, wie sie und sich einen Moment zurückziehen wollte um seinen Ärger über die Königskinder zu mäßigen.
„Und wohin gehst du bitte, wenn man fragen darf?“ fuhr er sie an. Sein Blick loderte. Aber er war nur ärgerlich, bestenfalls ungehalten. Nicht zornig.
„Ich wollte nur kurz ausruhen. Ich gehe nicht weg, keine Angst.“
„Warum hast du das nicht verhindert?“ Er wies auf die tanzende Menge und meinte offensichtlich Amileehna und Wiar. „Ist es nicht deine Aufgabe auf sie aufzupassen?“
„Ist es nicht deine Aufgabe, die Wölfe an der Leine zu halten?“ schnappte sie zurück.
„Wiar weiß genau, wenn er sie anrührt, wird ihn das mehr als seine Hände kosten. Aber die Prinzessin macht sich lächerlich mit so einem Verhalten.“
„Sie ist fünfzehn! Warum lasst ihr sie nicht ihren Spaß haben? Sie wird sich schon nicht mit ihm in die Büsche schlagen.“
„Wenn doch, weiß ich, wer sie dazu angestiftet hat“, sagte Rheys.
Jessy lachte auf. „Was für ein Blödsinn. Ich habe ihr gesagt, sie soll vorsichtig sein. Aber jeder Mensch muss eine eigenen Erfahrungen machen. Und dazu gehören auch Fehler.“
„Sie ist eine Prinzessin. Für sie gelten andere Regeln.“
„Ja, das habe ich schon gemerkt“, antwortete Jessy plötzlich ein wenig traurig. Rheys schien überrascht, dass der Streit so schnell vorbei war.
„Bleib gefälligst da, wo ich dich sehen kann“, knurrte er und wandte sich halb ab.
„Ach so, du siehst mich also gerne an?“
Es war heraus, bevor Jessy es überdenken konnte. Rheys starrte sie an, eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. Er kniff kurz die Augen zusammen, dann fasste er sich.
„Du weißt genau, dass ich das nicht gemeint habe.“
„Also siehst du mich nicht gerne an?“
Jessy warf sich das offene Haar über die Schulter und achtete darauf, ob seine Augen die Bewegung verfolgten. Aber er schaute nur in ihr Gesicht, keine Spur von Verunsicherung.
„Ich sehe dich überhaupt nicht an. Ich beobachte nur, was du tust. Und jetzt geh zu den anderen oder ich schicke jemanden, der dich in dein Bett begleitet.“
Jessy sagte nichts, grinste nur breit und wartete, ob ihm die Zweideutigkeit seiner Worte bewusst wurde. Als der Groschen schließlich fiel, schüttelte er den Kopf.
„Du bist wirklich ein verrücktes Weib. Mach doch, was du willst.“
Dann verschwand er. Jessy kicherte und bedauerte beinahe, dass er ging. Sie hätte nicht so viel Bier trinken sollen, das machte sich kindisch. Er würde sich wohl kaum von solchen Anspielungen aus der Ruhe bringen lassen. Aber wenigstens hatte sie für ein paar Minuten keine Angst vor ihm gehabt. Das war schon ein kleiner Erfolg.
Ein kräftiges Klopfen an der Tür weckte Jessy aus tiefem, traumlosem Schlaf. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie begriff, wo sie sich befand. Zusammen mit Amileehna und Sebel hatte sie die Nacht in einem gemütlichen sauberen Gästezimmer verbracht. Durch die beiden Fenster fiel graues Licht herein, es musste noch früh am Morgen sein. Jessy rieb sich die Augen. Der Schlaf unter einem soliden Holzdach und in einem richtigen Bett mit Matratze und daunengefüllter Decke war dermaßen erholsam gewesen, dass sie lange brauchte um richtig wach zu werden.
Schließlich, nachdem das Klopfen nicht aufhörte, trennte sie sich stöhnend von ihrem kuscheligen Kissen und tappte an die Tür. Amileehna und Sebel schliefen noch fest und schienen gar nichts zu hören. Vor allem die Prinzessin war nach dem ereignisreichen Abend völlig erschöpft ins Bett gefallen.
Jessy öffnete die Tür einen kleinen Spalt. Draußen stand Kaj. Er sah müde und unrasiert aus, hatte wohl die halbe Nacht vor ihrer Tür als Wachposten gesessen. Dabei war es kaum vorstellbar, dass ihnen hier inmitten dieser freundlichen Menschen irgendeine Gefahr drohte. Aber die Wölfe würden es trotzdem nicht wagen, ihre Prinzessin unbeaufsichtigt zu lassen.
„Wie spät ist es?“ krächzte Jessy. Sie hätte nichts dagegen gehabt, noch zwei Stunden im Bett zu bleiben. Wollte Tychon etwa jetzt schon weiter reiten?
„Guten Morgen“, sagte Kaj. „Es ist noch früh. Tychon möchte, dass du ihn unten triffst. Er braucht dich für eine besondere Aufgabe.“
„Wie bitte? Im Morgengrauen?“
Kaj zuckte die Schultern. Ihm war es offenbar egal, wie spät es war oder wie wenig Schlaf er bekommen hatte. Diese Männer waren wirklich an Unbequemlichkeit gewöhnt. Jessy seufzte.
„Ich komme so schnell ich kann“, sagte sie und schloss die Tür. Leise um die Mädchen nicht zu wecken, zog sie ihre Hose und ein frisches Hemd an und kämmte ihre Haare. Dann band sie sie zu einem Pferdeschwanz und wusch sich das Gesicht in einer kleinen Waschschüssel. Es gab keinen Spiegel, aber das machte ihr mittlerweile nichts mehr aus. Es erleichterte ihr das Leben sogar auf eine seltsame Weise. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie viele Gedanken sie sich zuhause um ihr Aussehen machte, obwohl sie nicht besonders eitel war. Hier hatte sie nicht einmal eine Zahnbürste. Die Westländer kauten auf bestimmten Blättern herum, die leicht nach Minze und Zimt schmeckten und ein angenehmes Gefühl im Mund hinterließen. Das war immerhin besser als nichts. Vielleicht landete ja in Kürze die Filiale eines Drogeriemarktes in der Nähe, dann konnte sie sich ausstatten. Mittlerweile kamen Jessy immer wieder solche absurden Gedanken, die sie schmunzeln ließen. Sie hatte angefangen, die Situation mit Humor zu sehen und das nahm ihr einen großen Teil der Angst von den Schultern.
In dem großen Speiseraum des Gasthofs waren bereits Tychon, Morian, Albin und Rheys versammelt. Auch Sketeph war dabei. Jessy wurde neugierig darauf, was das zu bedeuten hatte. Tychon lächelte sie strahlend an.
„Guten Morgen, meine Liebe. Hast du gut geschlafen?“ fragte Tychon. Die lange Nacht war ihm nicht anzusehen.
„Großartig, danke. Das war wirklich nötig.“ Sie lächelte. „Und was ist das hier für eine geheime Zusammenkunft?“
„Nicht wirklich geheim“, sagte Tychon. „Ich wollte nur kein großes Aufhebens machen. Wir sollten nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen.“
„Im Gespräch mit den Dörflern hat der Prinz herausgefunden, dass es ganz in der Nähe einen Magier gibt“, sagte Morian mit seinem typischen undurchsichtigen Lächeln. Doch seine Augen forschten in ihrem Gesicht nach etwas verräterischem, das ihm Antworten geben würde. Jessy merkte es genau.
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