„Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir kommen doch in friedlicher Mission. Und den Stein haben wir auch dabei!“
Damit Hazel nicht erneut nach dem roten D fragte, lenkte Connor schnell vom Thema ab.
„Jetzt gibt es erst einmal etwas zu essen und zu trinken!“
„Oh, toll, daran habe ich gar nicht gedacht“, gab Hazel kleinlaut zu, „ich dachte, wir fahren mit Ben hierher, erkunden die Höhle und fahren wieder nach Hause.“
„Es ist immer gut, wenn man für den Notfall gerüstet ist“, erklärte Connor und zog zwei Emaillebecher, eine Thermoskanne und eine große Plastikdose aus dem Rucksack.
„Es gibt heißen Tee und Dinkelbrot mit original Kintyre Cheddar-Käse“, verkündete er stolz.
Sogleich reichte er Hazel einen Becher, füllte ihn mit dampfendem Tee und schnitt ihr mit einem großen Sägemesser eine dicke Scheibe vom Brotlaib ab.
„Das Brot habe ich selbst gebacken“, erklärte Connor und hielt es hoch wie eine Trophäe.
„Ehrlich?“
Hazel staunte.
„Ein biologisch versierter Geschichtslehrer, der Fährten lesen und Brote backen kann! Tolle Kombination!“ Hazel lachte und hielt ihm die Scheibe hin, damit er sie mit Käse belegte.
„Halt“, rief sie, „nicht so viel!“
„Wer viel gewandert ist, der muss auch viel essen!“, lachte er und biss genüsslich von seinem Brot ab. „Und wer zurückwandern will, der muss auch genug trinken! Slainte mhath!“
Connor hob feierlich den Becher und stieß mit Hazel an.
„Slainte mhath!“, erwiderte sie und nippte vorsichtig an dem heißen Tee.
„Was ist das?“
„Kräutertee. Schmeckt er dir?“
„Sag bloß, den hast du auch selbst gemacht?!“
Mit großen Augen musterte sie Connor, der in der engen Felsspalte noch gewaltiger wirkte.
Er grinste.
„Woraus besteht denn der Tee? Hast du ein Aphrodisiakum für mich hinein gemixt?“, rutschte es Hazel heraus, und nun erging es ihr plötzlich wie Caitlin, die ständig rot anlief, sobald Jamie sie ansah. Schnell senkte sie den Blick, doch Connors Lachen befreite sie aus ihrer Scham.
„Brauchst du das denn?“
Er zwinkerte ihr zu und klärte sie dann schnell über die Zusammensetzung auf, um die peinliche Situation zu beenden.
„Der Tee besteht aus verschiedenen Kräutern. Brennnessel, Ehrenpreis und Kamille sind darin, ebenso wie Mädesüß, Gänseblümchen und Beifuß. Außerdem Ringelblume und Eisenkraut.“ Connor überlegte. „Königskerze und sogar Birkenblätter!“
„Hast du die alle selbst gesammelt, Herr Biologielehrer?“
„Und getrocknet“, ergänzte Connor stolz.
„Du bist ja ein halber Druide!“, stellte Hazel lachend fest und bemerkte nicht das Zucken in Connors Mundwinkeln.
„Hast du die Kräuter mit der goldenen Sichel geschnitten? Und dir einen langen weißen Rauschebart umgehängt? So wie Miraculix?“
Bei der Vorstellung lachte Hazel schallend, und in der Tiefe des Felsens erklang schaurig ihr Echo. Erschrocken sah sie Connor an. Mit bleichem Gesicht saß er ihr gegenüber. Seine Augen hatten einen leblosen Ausdruck angenommen.
„Die Vorstellung von Druiden“, vernahm sie seltsam dumpf eine fremde Stimme, die Connors Mund entsprang, „entspricht nicht der Wahrheit. Die Geschichtsschreiber haben vieles falsch interpretiert und überliefert. Und der moderne Mensch hat sich nach Gutdünken ein Bild von dem Druiden erschaffen, das nicht haltbar ist.“
Befremdet starrte Hazel auf die verzerrten Gesichtszüge ihres Begleiters.
„Es tut mir leid“, stammelte sie betreten, „wenn ich etwas Falsches gesagt habe. Ich wollte dich nicht verletzen.“
Verlegen malte sie mit einem Stöckchen Muster in den feinen Sand, der in den Eingang der Höhle geweht war. Zunächst waren es nur wenige Striche, dann entstand daraus ein Baum mit Krone und vielen einzelnen Blättern. Je länger Connor schwieg, desto mehr Blätter zeichnete Hazel in den Sand. Gebannt beobachtete Connor ihr Treiben. Dann nahm er abrupt ihre Hand und sah ihr fest in die Augen. Hazel erblickte in dem kühlen Blau ein Feuer. Rotgoldene Flammen schlugen empor und schienen alles Leben zu verbrennen. Sie begann zu zittern.
Endlich flüsterte sie: „Connor, du machst mir Angst!“
Er wandte den Blick von ihr ab und starrte auf die Zeichnung im Sand. Plötzlich stoben feine Körnchen zur Seite, als ein Tropfen auf eines der Blätter fiel. Hazel sah zum Himmel. Begann es zu regnen? Keine einzige Wolke war zu sehen, und auch das Meer hatte sich so weit zurückgezogen, dass keine Gischt mehr zum Plateau hinauf spritzte. Erst dann bemerkte Hazel, dass der Tropfen eine Träne war, die aus Connors Auge lautlos in den weichen Sand gefallen war. Er sprach kein Wort. Langsam sah er auf. Seine schwarzen Wimpern bildeten einen nassen Kranz um die blauen Augen, in denen das Feuer erloschen war, und Hazel spürte eine unbändige Macht nach ihrem Herzen greifen.
Nach einer langen Pause räusperte Connor sich und sprach: „Haselnussblätter.“
Verwirrt blickte Hazel ihn an.
„Haselnussblätter sind auch im Tee.“
Hazel nickte wortlos.
„Die Haselnuss hatte für die Kelten eine besondere Bedeutung“, begann Connor leise zu erzählen. „Sie bauten aus dem Holz Werkzeuge und leider auch Waffen, ebenso Zäune und Fischreusen. Die Hasel stand als Symbol für Fruchtbarkeit und Wohlstand, für Reichtum und Unsterblichkeit. Besonders aber für Klugheit. Das Verspeisen ihrer Früchte nämlich verhalf zum Erwerb von Weisheit.“
Hazel hörte gespannt zu. Der Wind pfiff nach wie vor, der Falke rief eeek-eeek, und das Meer rauschte, aber sie nahm nur noch Connors Stimme wahr, die nah an ihrem Ohr von vergangenen Zeiten berichtete.
„Der Jahreskreis des keltischen Volkes wurde unterteilt in bestimmte Zeiträume, denen spezielle Baumarten zugeordnet waren. Die Zeit der Haselnuss fiel in den März und in den September. Neun Vollmonde nach der Sommersonnenwende im Juni und neun Vollmonde nach der Wintersonnenwende im Dezember, an denen das Licht über die Finsternis siegt, beginnen die Tage der Haselnuss. Menschen, die in den Tagen der Haselnuss geboren sind, wurden gezeugt, als die Sonne ihren Höhepunkt erreicht hatte oder aus der finsteren Erde wieder geboren wurde. Diese Menschen sind eng verbunden mit der Zahl Neun und dem Neunerrhythmus, der auch die Zahl Drei beinhaltet.“
Connor schaute sie an.
„Haselnussgeborene Menschen sind verständnisvoll, ehrlich und tolerant. Sie besitzen neben großer Intelligenz auch eine stark ausgeprägte Intuition, die es ihnen ermöglicht, hinter die sichtbare Welt zu blicken.“
Connor machte eine Pause und trank einen Schluck Tee.
„Die Aufgabe haselgeborener Menschen ist es“, fuhr er fort, „das Konkurrenzdenken auszuschalten, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, Toleranz zu fördern und den Weg der Zärtlichkeit zu gehen. Frieden zu schaffen in der Welt.“
Eindringlich sah er in Hazels braune Augen, die begonnen hatten zu leuchten. Mit rotglühenden Wangen saß die junge Frau ihm gegenüber und lauschte fieberhaft seinen Schilderungen.
„Der Haselnussstrauch ist eine Pionierpflanze. Und so sind auch die haselnussgeborenen Menschen Pioniere auf dem gewaltfreien Weg zum Weltfrieden. So wie Mahatma Gandhi. Oder Jesus.“
Hazel sprach kein Wort. Wie gebannt sah sie auf Connors weiche Lippen, denen Worte der Liebe entsprangen, der Liebe für die ganze Welt.
Endlich trank auch sie vom Tee, der nichts von seiner wärmenden Kraft verloren hatte, obwohl er längst abgekühlt war.
„Warum erzählst du mir das, Connor?“, hauchte sie.
Ein Lächeln umspielte seinen Mund.
„Weil du in den Tagen der Haselnuss geboren bist. Hazel.“
Mit offenem Mund starrte sie ihn an.
„Woher weißt du das?“
Connor schwieg.
Читать дальше