„Stell dir vor, Matthew“, erzählte sie später ihrem Mann, „Mr. Wood ist lieber mit der wilden Miss Blackwell von der Gärtnerei zum Wandern gegangen als mit unserer hübschen jungen Lehrerin in die Kirche – wie es sich gehört an einem Sonntag!“
Erwartungsvoll sah sie Matthew an, doch der erhob sich schweigend vom Mittagstisch, um endlich wieder in seine bequeme Cordhose zu steigen und hinaus in den Garten zu gehen, wo es so herrlich ruhig war.
Der würde sich noch umgucken, dieser gottlose Mr. Wood! Schließlich war Hazel Blackwell doch mit Ben Cochrane befreundet. Der junge Fischer galt als streitlustig und schlagkräftig. Der würde sich niemals die Freundin wegnehmen lassen! Ob er wohl davon wusste, dass sein Konkurrent gerade eine Wanderung mit ihr unternahm?
Hastig schlüpfte Mary in ihre Sonntagsschuhe, stieg auf ihr Fahrrad und fuhr hinunter zum Hafen. Das steife Tweedkostüm engte ihre Brust ein, so dass sie atemlos den Kai erreichte und mit gerötetem Gesicht auf den Steg zumarschierte. Mit beiden Händen glättete sie ihr graues Haar und hielt dabei Ausschau nach Bens Boot. Doch vergeblich. Nein, sie täuschte sich nicht. Das rostige Cochrane-Boot, das Ben nach dem Tod seines Vaters vom alten MacCann gekauft hatte, kannte sie im Schlaf. Schließlich hatte sie manche Stunde hier zwischen den Booten verbracht, unentdeckt von den jungen Leuten, die leider immer so leise sprachen, dass sie nur Wortfetzen verstehen konnte.
Bens Boot lag nicht im Hafen. Gewöhnlich fuhr er am Sonntag nicht zum Fischen. Warum also war er heute auf das Meer hinausgefahren? Hatte Miss Lucy nicht von der Westküste gesprochen, an der sie wandern wollten? Von wegen Seevögel und Pflanzen! Mary konnte sich schon vorstellen, was sie dort vorhatten! Und nun war Ben auf dem Weg zu ihnen, um sich an Mr. Wood zu rächen! Würde es einen Kampf geben? Ach, es war einfach zu ärgerlich, dass sie keinen Führerschein besaß, sonst hätte sie einmal zufällig vorbeischauen können. Das wäre die Geschichte! Ja, sie hatte ja gleich gewusst, dass dieser Franzose das Böse mitbrachte! Gottlose Zauberei, und nun nahm er auch noch einem Einheimischen die Frau weg! Hoffentlich käme Ben gegen diesen schwarzhaarigen Hünen an! Hoffentlich verhexte dieser ihn nicht! Mr. Guthrie hätte niemals diesen Ausländer nach Kintyre holen dürfen. Bestimmt hatte er böse Wurzeln, die bis in eines dieser Länder reichten, in denen alle Leute solch pechschwarze Haare hatten und nicht an Gott glaubten! Nicht an den Richtigen.
Das würde noch ein schlimmes Ende nehmen. Resigniert trippelte sie zu ihrem Fahrrad zurück und überlegte. Matthew würde nichts davon hören wollen. Also beschloss sie, zu Margaret zu fahren, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen. Schwerfällig stieg sie auf das Pedal und schwang ihr massiges Hinterteil auf den breiten Kunststoffsattel.
8 Der große Plan der Götter
Sonntag, 12. September 2010 – Killocraw
Vorsichtig folgte Hazel Connor über die glatten Felsen, die in dieser Höhe bereits feucht von Meeresgischt glänzten. Die Ledersohlen der Cowboystiefel fanden wenig Halt, und Hazel musste gebückt gehen, um sich mit den Händen an Felsvorsprüngen festhalten zu können. Connor sah nicht zurück. Hatte er sie schon vergessen? Wie im Rausch kletterte er das Felsmassiv hinab, die Füße sicher zwischen den Steinen platzierend, während die Brandung unter ihnen gegen das schwarzglänzende Gestein schlug. Salzige Spritzer benetzten Hazels Gesicht und brannten in den Augen. Mit der Hand wischte sie sie fort und sah hinunter zu Connor, der kurz davor war, die markante Felsspitze zu erreichen. Tapfer kletterte sie weiter. Er hatte zwar behauptet, sie müsse nicht beweisen, dass sie stark und klug sei, aber nun wollte sie ihm zeigen, dass sie auch genug Geschicklichkeit besaß, um mit Wildwest-Stiefeln zur keltischen Höhle zu kraxeln. Wieder schlug eine große Welle an die Felsen, während der Sturm ihr Sand in die Augen blies. Verdammt! dachte Hazel. Plötzlich hörte sie Connor rufen. Seine Worte trug der Wind davon, aber deutlich erkannte sie den erhobenen Daumen und sein strahlendes Lächeln. Hatte er wirklich die Höhle gefunden? Die Sagen umwobene? Hazel beeilte sich. Nur noch wenige vorsichtige Tritte im Gestein, und endlich hatte auch sie den Felsen erreicht, der wie ein Ausrufezeichen den Höhleneingang markierte. Das Felsplateau davor wirkte wie eine Aussichtsplattform, von der aus Fairtheoir Túláin möglicherweise die strandenden Schiffe beobachtete. Oder konnte ein Felsengott durch das Gestein hindurchsehen, fragte Hazel sich, als Connor sie hinunter in den Höhleneingang zog.
„Wir haben sie gefunden, Hazel!“, strahlte er.
„Was macht dich so sicher, dass es die richtige Höhle ist?“
„Ich habe sie im Traum gesehen“, erklärte Connor und riskierte einen prüfenden Seitenblick auf seine Begleiterin.
Sofort erinnerte sich Hazel an ihren Traum, in dem sie Connor begegnet war. Hatte sie nicht auch etwas Schwarzes gesehen? Waren es Felsen gewesen? Ach was, schalt sie sich, das bildete sie sich nur ein! Der starke Wind hatte ihr wohl schon den Verstand aus dem Hirn geblasen!
„Komm‘, setz‘ dich, das Felsplateau bietet Schutz vor dem Wind“, forderte Connor sie auf.
Der Höhleneingang lag genau darunter und wurde zu einem Drittel von senkrechten Steinen, die das Plateau stützten, verdeckt. Die Öffnung war gerade so hoch, dass Hazel mit angewinkelten Beinen aufrecht darin sitzen konnte, während Connor sich nach hinten lehnte und die Ellenbogen auf die harten Steine stützte. Wenn sie eng zusammenrückten, bot der Felsspalt genügend Platz für zwei.
„Was machen wir nun?“, wollte Hazel wissen.
Wie seltsam, überlegte sie. Inzwischen begab sie sich schon freiwillig unter seine Führung. Sonst war sie selbst immer diejenige, die das Kommando übernahm. Dieser Mann hatte eine unerklärliche Macht über sie. Der Gedanke daran machte ihr Angst, aber zugleich fühlte sie sich sonderbar geborgen.
„Wir können nicht in die Höhle hinabsteigen, solange Flut herrscht. In den unteren Kammern steht bestimmt noch das Wasser“, erklärte Connor.
„Zu dumm“, fügte er hinzu, „dass ich mich nicht über die Tidenzeiten informiert habe.“
„Ja, wir haben uns eben zu sehr auf Ben verlassen. Wenn der wüsste, dass wir die Höhle auch ohne ihn gefunden haben!“
Connor schmunzelte und sah hinaus auf das ungestüme Meer, das hohe Wellen gen Küste schickte, geradeso, als handelte es in Bens Auftrag und hielte sie davon ab, in die Tiefe hinab zu steigen. Was war wohl der eigentliche Grund dafür, dass er heute nicht gekommen war? Umgab die Höhle ein weiteres Geheimnis, das Ben vor ihnen nicht preisgeben wollte?
„Dann warten wir eben auf Ebbe“, erklärte Hazel trotzig.
„Die wird vermutlich zu spät eintreffen. Bei Dunkelheit können wir unmöglich über die Felsen steigen!“
„Wir hätten eine Taschenlampe mitnehmen sollen!“
„Habe ich dabei“, sprach Connor und klopfte auf seinen Rucksack, „aber es wäre unvernünftig und verantwortungslos, trotzdem in die Höhle zu steigen, denn wir müssen ja auch noch wieder zurückklettern und den ganzen Weg zum Auto bewältigen.“
Hazel maulte.
„So was Blödes!“
„Wir wollen uns lieber freuen, dass wir die Höhle gefunden haben, Hazel!“, versuchte Connor sie aufzumuntern. „Weglaufen wird sie uns sicher nicht. Denk mal dran, wie viele Jahrhunderte Fairtheoir Túláin hier schon lebt. Da kommt es doch auf ein paar Tage auch nicht mehr an. Wir werden wiederkommen!“ tröstete Connor Hazel – und sich selbst, denn am liebsten wäre auch er sofort in die Tiefe hinabgestiegen und hätte das Geheimnis der gefangenen Seelen gelüftet.
„Ist es dir nicht unheimlich hier zu sitzen?“, fragte Hazel plötzlich und sah hinab in die kalte schwarze Tiefe, die wie ein offener Schlund auf Nahrung wartete. An den Felswänden rann Wasser hinab wie der Speichel eines Ungeheuers.
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