Hazel fand leise ihre Stimme wieder.
„Connor, du sprichst, als hättest du es selbst gesehen!“
Plötzlich war er ihr unheimlich. Was wusste sie eigentlich von diesem Menschen, der aus der Fremde hier her gekommen war und sie mit seinen Augen verzaubert hatte? Sie hatte bereits von ihm geträumt, bevor sie ihm begegnet war! Was tat er mit ihr? Was wollte er wirklich in Portmullen? Hatte die alte Mrs. MacFarlane recht, wenn sie misstrauisch hinter ihm her schnüffelte und behauptete, er sei ein Zauberer? Brachte er wirklich das Böse, wie Hazel zwei Kundinnen in der Gärtnerei hatte tuscheln hören? Connors Blick ließ sie erzittern.
Doch plötzlich lächelte er.
„Hazel, du bist ja ganz blass! Du brauchst dich nicht zu fürchten. Deine Seele ist nicht böse. Und ich werde dich beschützen.“
Mit großen Augen sah sie ihn an.
„Heißt das, du nimmst mich mit?“
„Ja. Ich weiß, dass dir nichts geschehen wird.“
Das seltsame Gefühl in Hazels Bauch wollte einfach nicht weichen.
„Connor, ständig sprichst du in Rätseln! Woher weißt du das alles?“
Sanft nahm Connor ihre Hand und beruhigte sie. Mit einem entwaffnenden Lächeln erklärte er: „Ich habe schließlich Geschichte studiert! Du weißt doch, Hazel, dass Lehrer immer alles besser wissen müssen!“
Laut lachte er, und Hazel fiel erleichtert mit ein.
„So, wollen wir los?“, fragte Connor und setzte flink den großen Rucksack auf, der am Kiosk gelehnt hatte.
„Ja, klar! Aber weißt du denn, wohin wir fahren müssen?“
Stolz zog Connor eine Wanderkarte aus der Jackentasche und zeigte Hazel das Gebiet um Killocraw, das er bereits rot eingekreist hatte.
„Es ist immer besser, man informiert sich selbst! Auch wenn man eine Fremdenführerin hat!“ Schelmisch grinste er Hazel an.
„Lass‘ uns dort an der Küste entlang gehen. Das hier sind ungefähr fünf Meilen. Schaffst du das?“
„Na klar! Und sonst musst du mich halt tragen!“
Das hatte sie nur denken wollen. Nun waren ihr die Worte aus dem Mund gerutscht.
Connor lächelte.
„Kein Problem.“
Mit dem kleinen Vauxhall machten sie sich auf den Weg Richtung Killocraw. Auf der A 83 fuhren sie durch Wiesen und Felder über Kilchenzie, bis sie nach ungefähr sechs Meilen die Küste erreichten. Hier begann der lange Sandstrand, der im Süden bis nach Machrihanish reichte. Doch sie fuhren in nördlicher Richtung weiter.
„Sieh nur, hier gibt es schon Felsen, Connor!“, staunte Hazel.
Er lachte.
„Ich habe gedacht, du kennst dich hier aus! Na, wie gut, dass du mal etwas Anderes vom Land siehst als Portmullen!“
„Ich kenne die Küste!“, empörte sich Hazel. „Aber meistens bin ich mit Bens Boot mitgefahren, und von der Wasserseite sieht sie ganz anders aus!“
„Vielleicht bist du schon ganz nah an der Höhle vorbeigefahren, ohne es zu wissen!“
„Ja, und vielleicht hat Fairtheoir Túláin uns vor dem Zerschellen bewahrt!“
Prüfend sah Connor sie an. Machte Hazel sich lustig? Doch ihr Gesicht war ganz ernst.
„Ben hat mir nie etwas von der Höhle erzählt“, wunderte sie sich.
„Er wusste wohl, dass du sie sonst besuchen würdest!“
Endlich erreichten sie Killocraw, und Connor fand einen Parkplatz.
„Ich dachte, wir wollten bis Bellochantuy fahren?!“
Überrascht sah Hazel Connor an, der mit versunkenem Blick auf das Meer schaute.
„Siehst du die Vögel dort?“
Hazel reckte den Hals.
„Ja, irgendwelche Möwen.“
„Na, du bist mir die richtige Vogelführerin!“, lachte Connor und erklärte: „Das sind Wanderfalken, die dort im Sommer in den Felsen gebrütet haben. Der Wanderfalke ist die am weitesten auf der Welt verbreitete Vogelart. Falco peregrinus.“
„Jawohl, Herr Professor! Vielen Dank für die Aufklärung!“
Hazel legte die Hand auf die Brust und verbeugte sich vor Connor.
„Können Sie mir bitte gnädigst den Zusammenhang zwischen Wanderfalken und unserem Ziel erläutern?“
„Falken weisen den Weg.“
Verständnislos schaute sie Connor an.
„Das sind sehr komplexe Vorgänge. Es ist schwer zu erklären. Man muss die Vögel lange studiert haben.“
„Ach ja“, erinnerte sich Hazel, „du bist ja auch Biologielehrer. Und die wissen bekanntlich Dinge, von denen kleine Schülerinnen nicht einmal zu träumen wagen!“
„Genau!“, lachte Connor und schloss damit das Thema ab.
„Komm‘, lass uns hier aussteigen, Hazel! Wir müssen in südlicher Richtung gehen, die Sonne im Gesicht.“
Connor befreite seinen großen Körper aus der Enge des Kleinwagens und reckte sich genüsslich.
„Welche Sonne? Ich sehe nur graue Wolken!“, beschwerte sich Hazel und vermied den Blick auf seinen straffen Körper.
„Die Sonne ist immer da! Auch wenn du sie jetzt nicht sehen kannst.“
„Das weiß ich auch“, schimpfte sie, „schließlich bin ich nicht ganz dumm!“
Die braunen Haselaugen sandten helle Blitze aus.
Connor lachte.
„Ich wollte dich nicht beleidigen, Hazel. Ich wollte dir nur von der Sonnenverehrung der Kelten erzählen. Vom Wiedererwachen des Lichts und der Wiedergeburt des Lebens im tiefsten Winter. Deshalb habe ich gesagt, die Sonne sei immer da, so wie auch deine Seele...“ Connor unterbrach sich selbst. Hazel runzelte die Stirn.
„Komm‘, lass uns einfach losgehen“, entschied er, setzte den Rucksack auf und reichte Hazel versöhnlich die Hand.
„Also gut, folgen wir der Spur der Falken und der ewigen Sonne!“
Zu ihrer Linken lag die Fahrbahn und dahinter das hügelig ansteigende Land, das als Gras- und Weideland für Rinder- und Schafherden diente und von weitläufigen Heideflächen umgeben war. Zur Rechten erstreckte sich unendlich grau und aufgewühlt das Meer. Salzige Luft stieg ihnen in die Nasen. Ein leichter Fischgeruch.
„An klaren Tagen kann man dort drüben Islay erkennen“, erklärte Hazel, die Connor beweisen wollte, dass sie sich wenigstens in der Kintyre umgebenden Inselwelt auskannte. Mit dem Finger wies sie in nordwestlicher Richtung.
„Und da hinten in der Ferne, mehr im Südwesten, liegt Rathlin Island. Das ist schon Irland. Wusstest du, Connor, dass der Mull of Kintyre der nahegelegenste Ort Großbritanniens zum irischen Festland ist?“
Stolz sah sie ihn von der Seite an. Ein leichter Wind spielte in seinen Locken, während seine Lippen ein Lächeln umspielte.
„Ich habe darüber gelesen. Genaugenommen ist das irische Festland, von dem du sprichst, allerdings auch noch ein Stück Großbritanniens...“
Hazel verdrehte theatralisch die Augen.
„Ja, Herr Oberlehrer, ich weiß, dass es sich um Nordirland handelt, das zu Großbritannien gehört! Hältst du mich eigentlich für dumm, weil ich ‚nur in einer Gärtnerei‘ arbeite und nicht studiert habe?! Glaubst du, ich hätte keinen Schulabschluss gemacht? Denkst du, ich kann nur ein paar Pflänzchen verkaufen, die ich mit Glück benennen kann?!“
Connor sah sie traurig an und griff nach ihrem Arm, doch Hazel riss sich wütend los.
„Immer glauben alle Leute, ich bin total bescheuert, nur weil ich bei der Arbeit kein Kostüm oder ein schickes Kleid trage. Nur weil ich nicht in so einem piekfeinen Büro sitze und wichtige Konferenzen abhalte oder in feiner Seidenbluse den Leuten Kredite andrehe!“
Aufgebracht beschleunigte sie ihren Schritt. Doch Connor stoppte sie, indem er von hinten ihre Taille griff. Die Lederjacke lag fest in seinen Händen, und behutsam drehte Connor die zappelnde Hazel herum. Mühsam gelang es ihm, sie festzuhalten. Sie atmete heftig und sah stur an ihm vorbei, während sie die Arme stramm vor der Brust verschränkte.
„Hazel“, sprach er eindringlich, „Hazel, beruhige dich!“
Sanft strich er eine wilde Haarsträhne aus ihrer Stirn. Die braunen Augen blickten trotzig.
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