Forsch schob sie die kleine Person an den Wegesrand, der vom dunkelgrünen Laub mehrerer Rhododendren eingefasst war. Deutlich waren die braunen Fruchtstände zu erkennen, die ringförmig im dichten Blattwerk standen und an vergangene Frühlingstage erinnerten. Hier müsste auch einmal der Garten gepflegt werden, überlegte Mrs. MacFarlane und knipste mit Daumen und Zeigefinger eine braune Samenkapsel ab. Aber dafür war wohl kein Geld vorhanden. Missmutig schaute sie auf das Kraut, das sich zwischen den Sträuchern ausgebreitet hatte. Wenn sie hier etwas zu sagen hätte, sähe der Kirchgarten anders aus!
Doch nun richtete sie ihren Blick auf die Kirchenbesucher, die nacheinander Pfarrer McGowan die Hand reichten und unter leisem Lachen oder in ein vergnügtes Gespräch vertieft das Gotteshaus verließen.
Der alte MacLeod stützte sich schwerfällig auf seinen Gehstock. Na, der sollte mal nicht so tief in die Flasche schauen, dann könnte er auch besser gehen! Und seine Frau schien schon wieder dicker geworden zu sein! Mrs. MacFarlane schüttelte den Kopf und ließ ihren Blick deutlich über die rundliche Metzgerin schweifen, die mit einer engen beigefarbenen Jacke wie einer ihrer berühmten Haggis aussah. Innerlich kicherte Mrs. MacFarlane über ihren Vergleich mit der runden Wurst.
Auch einige Lehrer konnte Mary nun entdecken. Allen voran Mrs. Montgomery, seriös wie immer, im dunkelblauen Kostüm und mit perfekt gekämmter Frisur und gepflegtem Teint. Daran sollte sich die gesamte Schule ein Vorbild nehmen! Leicht neigte sie ihren blonden Kopf vor dem Pfarrer und schritt stolz davon.
Anders Mr. Guthrie, der kleine stämmige Schulleiter. Sein braunes Haar wirkte frisch gewaschen, aber wie konnte jemand, der solch eine Position inne hatte, mit Jeans und Freizeitjacke zur Kirche gehen?! Seine Frau schien das nicht im Geringsten zu stören, trug sie doch selbst derbe Halbschuhe und eine rote Jacke, die schon länger die Waschmaschine nicht mehr gesehen hatte. Lachend legte Mr. Guthrie den Arm um ihre Schulter und winkte noch einmal dem Pfarrer zu, der inzwischen Familie Gallagher verabschiedete. Zwei entzückende Töchterchen hatten sie. Beide trugen hübsche Kleidchen, eines in Rosa, das andere in Violett, dazu weiße Kniestrümpfe und ordentlich geflochtene Zöpfe. Brav standen sie an die Beine ihres Vaters gelehnt und sahen ehrfürchtig hinauf zu Pfarrer McGowan, der ihnen segnend die Hand auf die Köpfe legte. Mr. Gallagher arbeitete in der Bank, und seine hübsche schlanke Frau erledigte die Hausarbeit und erzog die Mädchen. Schon als Kinder hatten Eva und George zusammen gespielt, erinnerte sich Mary. Beide waren hier aufgewachsen, genau wie sie selbst auch.
Keine Spur war zu sehen von der wilden Miss Blackwell, der burschikosen Gärtnerin, die sich regelmäßig mit dem jungen Fischer Ben Cochrane herumtrieb. Ein einziges Mal hatte Mary die beiden in der Kirche gesehen. Damals vor zwei Jahren, bei der Trauerfeier für Mr. Cochrane senior. Eine tragische Geschichte. Das Meer hatte nicht nur sein Boot genommen, sondern auch sein Leben. Doch das schien ihm sowieso nicht mehr viel wert gewesen zu sein, seit seine Frau an Krebs gestorben war. Unter Depressionen soll er gelitten haben. Kein Wunder, dass sein Sohn zu einem Außenseiter geworden war. Bestimmt hatte er deshalb angefangen zu trinken. Das tat er ja reichlich auf seinem Boot, munkelte man. Selbst Hazel Blackwell nahm gerne mal einen ordentlichen Schluck Whisky. Wohin sollte das noch führen?! Lieber sollten sie eine Familie gründen und sich dem gesellschaftlichen Leben im Ort anpassen. Und dazu gehörte auch der sonntägliche Gang zum Gottesdienst!
Matthew erschien in der großen Kirchentür. Klein und rund stand er vor dem großen schlanken Pfarrer. Seine roten Wangen glänzten frisch rasiert, und das graue Haar hatte er sorgfältig nach hinten gekämmt. In seinem braunen Sonntagsanzug und den polierten Lederschuhen sah er um Jahre jünger aus, stellte Mary fest. Wie verabscheute sie seine alten grauen Hemden und die grüne Cordhose, die er zu Hause immer trug. Und erst die schmutzige Tweedmütze, die er schon vor ihrer Hochzeit getragen hatte. Damals war er allerdings ein schmucker junger Farmer gewesen, der sie mit frischem Lammfleisch umworben und ihr schließlich ein sicheres Heim geboten hatte. Schlank und kräftig war er gewesen und hatte volles hellbraunes Haar gehabt. Und immer ein freundliches Wort für sie. Davon war nicht viel übrig geblieben. Wortkarg zog er sich nach dem Frühstück meist in den Schuppen zurück, um zur nächsten Mahlzeit hungrig zurückzukehren. Seine Kleidung ließ zu wünschen übrig, ebenfalls sein Benehmen bei Tisch. Aber wenigstens badete Matthew regelmäßig, damit er seine Frau am Sonntag in die Kirche begleiten konnte, ohne dass sie sich schämen musste. Dennoch zog sie es vor, neben Mrs. Kingsley zu sitzen, die auch während des Gottesdienstes stets ein offenes Ohr für sie hatte. Matthew dagegen hatte sie ausgescholten, als sie einmal gemeinsam in der Bank gesessen hatten. Dabei hatte sie ihn doch nur darüber informieren wollen, dass Pfarrer McGowan mit der jungen Miss Davenport einen regen Blickwechsel unterhielt.
Da erschien sie endlich! Lucy Davenport, die junge Lehrerin. Nervös trippelte Mrs. MacFarlane von einem Fuß auf den anderen und wartete ungeduldig darauf, dass sie sich endlich vom Pfarrer verabschiedete. Sah er ihr schon wieder in die schönen Augen? Blitzte da nicht ein Blau in seinem Blick, der von großer Verlockung sprach? Hielt er nicht ihre Hand länger als es sich gehörte?
Auf Lucy hatte Mrs. MacFarlane gewartet. Gerade als die junge Frau im fliederfarbenen Rock sie passierte, trat sie aus dem Rhododendrongebüsch hervor und stoppte deren Schritt. Sie griff nach Lucys Arm, der schmal in einem feinen weißen Blazer steckte und vor Schreck zusammenzuckte.
„Mrs. MacFarlane!“, rief Lucy aus. „Haben Sie mich erschreckt!“
„Guten Tag, Miss Davenport. Entschuldigen Sie bitte. Sagen Sie, haben Sie irgendwo meinen neuen Nachbarn gesehen? Ich hätte ihm so gerne einmal die Stadt gezeigt, jetzt wo wir schon zusammen hier sind.“
Überrascht sah Lucy die kleine Dame in ihrem altmodischen grünkarierten Tweedkostüm an.
„Wenn Sie Mr. Wood meinen, muss ich Sie enttäuschen. Der ist heute nicht zur Kirche gekommen.“
Das wusste Mary natürlich, doch gab sie sich sichtlich betrübt und erklärte: „Ach, das ist aber schade! Wissen Sie denn, wo ich ihn finden kann?“
„Warum sollte ich wissen, wo sich Ihr Nachbar aufhält?!“, fragte Lucy ungeduldig.
„Na, er ist doch Ihr Kollege. Und befreundet sind Sie auch, wie ich hörte!?“
Jetzt wurde Lucy ärgerlich.
„Ja, wir sind Kollegen, das ist richtig. Mehr nicht!“
Sie wollte gehen, doch Mary hielt sie zurück.
„Aber Sie wären doch ein hübsches Paar!“, schmeichelte die alte Dame, nicht ohne Hintergedanken.
„Mr. Wood verbringt seine Freizeit aber lieber mit Pflanzenexpertinnen!“, brach es nun aus Lucy hervor, die ihre Eifersucht nicht länger unter Kontrolle halten konnte. Niemandem hatte sie ihren Ärger und die Wut anvertrauen können, die sie spürte, seit Connor sich mit Hazel zum Wandern getroffen hatte. Den gesamten Gottesdienst über hatte sie versucht, ihre nagende Eifersucht zu unterdrücken. Nun platzte sie aus ihr heraus, und ohne nachzudenken offenbarte Lucy dem ersten offenen Ohr ihren Missmut.
„Von wem sprechen Sie?“, erkundigte Mrs. MacFarlane sich scheinheilig und hatte keine Skrupel, die offensichtliche Verwirrung der jungen Lehrerin auszunutzen.
„Von Miss Blackwell! Von dieser – Gärtnerin! Die mit dem Mofa und der Lederjacke!“
„Ach die!“, fiel Mary spielerisch aus allen Wolken. „Was findet er denn an der ?!“
Jetzt brauchte sie sich nicht mehr anzustrengen, Miss Davenport Vertraulichkeiten zu entlocken. Ein Schwall aufgestauter Gefühle schoss aus Lucys Lippen und offenbarte eine unerwiderte Liebe und das Unverständnis über Connors Vorzüge, das weibliche Geschlecht betreffend. Darauf hatte Mary gelauert. Also hatte sie richtig vermutet, dass Miss Lucy sich über den neuen Lehrer grämte, als sie heute Morgen mit betrübtem Blick und feuchten Augen die Kirche betreten hatte. Triumphierend blickte Mary zu Mrs. Kingsley an ihrem Arm, die bereitwillig wartete, bis Mrs. MacFarlane ihr Spiel beendet hatte.
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