„So, Schwesterchen, hör gut zu - denn ich“, und damit deutete er in einer übertriebenen Geste auf sich selbst, „... ich erkläre dir jetzt mal, wie das Ganze so funktioniert.“
Eleya schaut verwirrt hoch. „Mhhhm ...“
Dann wurde Esrael ernster. „Also, Eleya, alles, was du siehst, wird von einer gewaltigen Kraft durchströmt. Pass auf, stell dich gerade hin ...“
Eleya postierte sich neben Esraels Abbild und stellte sich in übertriebener Haltung in Pose.
„Und nun?“
Esrael betrachte sie prüfend. Dann zuckten seine Ohren, die rechte Hand schoss nach vorne durch die Luft.
„Autsch“, schrie Eleya auf, als sie einen Klaps auf ihrem Hintern spürte. „Ich dachte, du kannst mich nicht anfassen?“
„Schwesterchen, dafür langt´s noch alle mal. Und jetzt streng dich an und schau genau hin. Stehe ich etwa so da, als ob ich die Windeln voll hätte?“
Eleya blickte finster zurück, dabei korrigierte sie ihre Haltung.
„Na also. Jetzt nochmal!“
Eleya stellte sich gerade hin und schon das Becken nach vorne.
„Besser so? Is’ so richtig?“
„Ja, so ist gut, und nun mach mir nach. Hebe deine Arme, genau so.”
Eleya machte es nach.
„... und nun ... atme ... ein ... und aus. Stell dir vor, dass du durch deinen Bauchnabel einatmest“, hörte sie Esraels Stimme. „Und schau nicht mich an! Sieh gerade aus. ... beim Ausatmen verlässt die verbrauchte Luft deinen Körper durch eine Öffnung in der Mitte deines Kopfes.“
Esrael bewegte die Hände wie gegen einen unsichtbaren Widerstand nach unten.
„Ja, gut so. Stell dir vor: Strahlende, goldene Luft durchströmt dich, erfüllt dich mit der Kraft und verlässt dich wieder. Halte sie nicht fest, nimm sie einfach auf, lass sie durch dich strömen, und lass sie gehen. Klammere an nichts fest. Nimm an, was kommt. Nichts bleibt, alles ist im Fluss. Die Luft, die du atmest, ist rein, golden und klar ...“
„Esrael?“
„... ja, was ist?“
„Esrael, ich hab' Hunger“, warf Eleya mit quengelnder Stimme ein.
„Oh man, ich fass’ es nicht“, grunzte Esrael und brach seine Bewegung ab. „Bin ich deine Amme oder was?“
Doch dann sah Esrael auf das Mädchen herab: sie hielt den Kopf gesenkt, die Ohren nach hinten an den Kopf angelegt. Mit riesigen Augen sah sie zu ihm auf.
„Na gut. Dann iss was. Zehn Minuten Pause.“
Ein Strahlen huschte über ihr Gesicht, das unmittelbar darauf verschwand.
„Esrael, was kann ich denn hier essen ...?“
Esrael verdrehte die Augen und stöhnte. Er reckte die rechte Hand nach oben und ließ die ausgestreckte, flache Hand im Handgelenk nach vorne abknicken. Ein winziger Blitz entstand in der Luft, dann war die flüchtige Erscheinung vorüber.
Im selben Moment schlossen sich die lückenhaften Erinnerungen und Eleya wusste von den unterschiedlichsten Obst- und Gemüsesorten, die hier wuchsen. Sie kannte den Platz der kühlen Quelle, die gurgelnd den Teich füllte. Sie erinnerte sich an den Ort der magmabeheizten Becken, in dem man verschiedene Sachen erwärmen konnte genauso deutlich wie an die Nistplätze der großen Vögel, die jeden Tag neue Eier ablegten.
„Danke, Esrael ...“
„Ja, is’ schon gut. Aber danach gehts weiter.“ Das Abbild von Esrael setzte sich wieder auf den Boden und begann, gelangweilt mit dem kleinen Stock auf dem Boden zu kratzen.
Türkei, 11000 Fuß Höhe über Grund
Ein Blick auf das Display bestätigte Mika, dass sie in wenigen Minuten den Rendezvous Punkt erreichen. Nach der Erfahrung mit dem Hurrikan hatte Mika die Flughöhe der gesamten Staffel um 2000 Fuß erhöht. Noch immer hatte sich die Gewitterlage nicht verändert. Die turbulenten Wolkenmassen unter ihnen bildeten eine scheinbar undurchdringliche Oberfläche, der restliche Himmel war in ein ockerfarbenes Licht getaucht.
„Siehst du die anderen?“, fragte er Carlos.
„Nein, wir sollten schon seit einiger Zeit die beiden Geschwader mit dem Radar erkennen können, doch da werden nur Störungen angezeigt.“
„He, wirf einen Blick auf 10 Uhr.“
Carlos reckte den Hals nach links und wollte sich vorbeugen, doch die Gurtsysteme hielten ihn fest auf seinem Platz. Er traute seinen Augen nicht, als er die Wolkendecke schräg unter ihm sah. Plötzlich konnte er auch das Bild verstehen, was ihm das Radar zu vermitteln versuchte.
In einer Entfernung von zirka zehn Kilometern schräg unter ihnen klaffte in der Wolkenoberfläche ein gewaltiges Loch. Der mehrere hundert Meter durchmessende Strudel ließ ein trichterförmiges Loch in der undurchdringlichen Wolkendecke entstehen. Ein gewaltiger Hurrikan hatte sich geformt. Selbst von hier aus konnte man die kolossalen Blitze zucken sehen.
Ohne ein Wort zu verlieren, aktivierte Mika den befohlenen Com Kanal: „Leader Orange, this is Daywalker on GT-Zero-Three-Four. Bitte bestätigen sie Sichtkontakt.“
„Daywalker, hier ist Gilgamesch, Führer der Orange Staffel!“
Mika erkannte sofort die Stimme von seinem langjährigen, italienischen Freund Fabio.
„Hey Gilgamesch, ich sehe euch nicht. Wo seid ihr?“
„Wir sind in eine sehr große Kurve um das Ding eingeschwenkt und befinden uns etwa fünf Kilometer vor euch in einer Höhe von 8000 Fuß. Hier gibt es im Moment so gut wie keine Turbulenzen.“
Mika und Carlos blickten nach links, dann sahen sie das Geschwader auch: Fast dreißig Punkte befanden sich unter ihnen.
„Gilgamesch, lasst uns so schnell wie möglich von hier verschwinden. Geht auf keinen Fall noch näher ran, irgendetwas stimmt an diesem Ding nicht“, antwortete Mika. Ihr schliesst euch an, wenn wir gleich den Waypoint 5 erreicht haben. Und steigt sofort auf 10.000 Fuß.“
„Roger“, kam die Antwort.
Mika leitete ebenfalls die Kursänderung ein. Die Bordcomputer übertrugen die Anweisungen simultan auf die nachfolgenden Flugzeuge. Das europäische Geschwader zog in einer lang gestreckten Kurve nach rechts weg.
Die italienische Staffel war näher an der Spirale des Hurrikans, aber die Entfernung von fünftausend Meter und der rasche Anstieg sollten mehr als ausreichend sein.
Das dachte jeder.
Doch dann geschah das absolut Unerwartete. Der gewaltige Trichter schwappte wie in Zeitlupe nach oben und formte eine Beule.
Mika schrie noch eine Warnung aus, doch er ahnte noch nicht einmal, was geschehen würde. Die Beule wuchs in die Höhe und formte innerhalb weniger Sekunden eine gigantische Säule mit einem Durchmesser von fast einem Kilometer.
Erst saugte der neue Hurrikan gigantische Luftmassen an - die einsetzenden Turbulenzen waren extrem. Doch dann geschah etwas Unfassbares.
Riesige Blitze begleiteten das wahnsinnige Schauspiel. Wie ein mächtiger Krake breitete der Hurrikan seine Ausläufer aus, erst ein, dann zwei Kilometer, bis er plötzlich in einer einzigen wirbelnden Bewegung das gesamte italienische Geschwader erfasste.
Selbst aus dieser Entfernung sah man, wie die ersten Maschinen in der Luft zerbrachen, bei anderen Jets wurden komplette Tragflächen abgerissen, gigantische Blitze ließen die Flugzeuge in einem lautlosen Feuerball aufgehen, der flackernd im Innern des Hurrikans verschwand.
Zwischenwelt, zwei Monate später
Das Licht wechselte. Der vor zwanzig Minuten herabprasselnde Wolkenbruch hatte nicht zu einer Abkühlung beigetragen. Die beiden Sonnen brannten gnadenlos, um in kürzester Zeit die gesamten Niederschlagsmengen wieder in Wasserdampf zu verwandeln. Dichte Nebelschwaden hingen in der Luft, und Eleyas kinnlanges Haar klebte an ihrer Stirn. Das Band aus dünnen Schnüren, welches sie um ihren Kopf gewickelt hatte, hielt die widerspenstigsten Strähnen aus dem Gesicht. Sie trug ein ärmelfreies, kurzes Kleid, das an einen Sack erinnerte. Mehrere braun-grüne Schnüre aus einem Pflanzenmaterial hielten es in Form.
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