„Alle sollen sofort zum Rathausplatz kommen.“
Erst ging man zum Grafen, dann zu den Klöstern und schließlich sagte es ein Bürger dem anderen. Nach kurzer Zeit war der Rathausplatz voll von Menschen.
Der alte Prior der Dominikaner trat nach vorn und fühlte sich berufen, diese Massen anzusprechen. Er sagte nur:
„Kommt alle mit! Wir wollen sehen, was geschehen ist!“
Er hatte ein großes Kreuz mitgebracht, das normalerweise bei der Fronleichnamsprozession voran getragen wird, und ging mit dem hoch erhobenen Gekreuzigten an der Spitze des Zuges. Das Volk folgte ihm in schweigender Spannung. Schließlich wurden Gebete gesprochen und Lieder gesungen, die der alte Prior angestimmt hatte.
Als man den Wald erreicht hatte und man sich der Eiche näherte, gab es kein Halten mehr. Der ordentliche Zug löste sich auf. Jeder wollte der erste sein, der das Unerhörte in Augenschein nahm. Auch der Prior lehnte das mitgeführte Kreuz an einen Baum und lief mit. An der Eiche angekommen stellte er sich schützend neben die angenagelte Hostie und sprach:
„Herr und Gott, Jesus Christus! Was hat man dir angetan? Wir wollen zur Sühne an dieser Stelle eine Wallfahrtskirche errichten. Sie soll die schönste des Landes werden. Und wir werden alljährlich eine Bußwallfahrt hierher unternehmen. Dies geloben wir alle!“
Der Prior hob die Hände wie zum Dirigieren und fuhr fort:
„Und jetzt alle: Ja, wir geloben es!“
Das Volk fiel wie mit einer Stimme in diese Eidesformel mit ein oder besser gesagt schrie geradezu die vorgesprochenen Worte nach.
Der Ritter trat vor, stellte sich ebenfalls neben die Eiche und rief aus:
„Diejenigen, die das getan haben, sollen nicht ungeschoren davon kommen. Sie haben, als sie Jesus gekreuzigt haben, gerufen: ‚Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!‘ Was aber ist geschehen? Sie leben bei uns wie die Maden im Speck und bereichern sich durch Missachtung des göttlichen Zinsverbots. Nehmt ihnen zur Strafe alles weg, was sie auf sündhafte Weise zusammen gerafft haben und mit diesem Geld wollen wir die Kirche zur Sühne ihrer Verbrechen bauen. Und dann lasst das wahr werden, was sie selbst bei der Kreuzigung unseres Heilands geschrien haben.“
Das Volk klatschte Beifall und johlte Zustimmung. Als der Ritter den Ort des Geschehens verließ, folgte ihm die Masse, diesmal nicht betend, sondern grölend. Man sang gemeinsam ein Spottlied auf die Juden, das damals jeder kannte, wenn es auch nur hinter der vorgehaltenen Hand weiter gegeben oder bei gehobener Stimmung im Wirtshaus gesungen wurde. Beim Refrain überschlugen sich fast die Stimmen:
„Ihr liegt schon bald in eurem Blut,
Da habt ihr’s warm, das tut euch gut.“
Auch der Prior, der mit dem Prozessionskreuz hinterdrein ging, summte leise mit und wusste: Jetzt bricht Gottes Strafgericht verdientermaßen über die Juden herein.
Und so geschah es auch, als der wütende Mob zum Judenghetto stürmte. Man drang in die Häuser ein und nahm den Bewohnern alles, was wertvoll oder brauchbar war. Auch der Ritter erschien im Haus seines Gläubigers und verlangte die Schuldurkunde.
„Sie ist nicht hier. Sie liegt in Venedig auf der Bank. Das habe ich Euch doch schon gesagt!“ erwiderte der Mann.
„Du lügst und wirst dafür deine Strafe erhalten“, schrie der Ritter. Er zog sein Schwert. Aber als der Jude vor ihm auf die Knie fiel und um Gnade wimmerte, steckte der Ritter seine Waffe wieder in die Scheide und sagte:
„An einem Lumpen wie dir will ich mein Schwert nicht schmutzig machen.“
Er verließ schleunigst das Ghetto, denn er wusste schon, was geschehen würde: Man hatte das Judenviertel an mehreren Stellen angezündet und dann die Tore verriegelt.
Bald schlugen die Flammen hoch in den Himmel, und so konnte auch Gott nicht verborgen bleiben, dass man seine „zweite Kreuzigung“ gesühnt hatte: Kein Jude war übrig geblieben.
Am nächsten Sonntag in der Stadtpfarrkirche wusste der Priester genau, was er zu sagen hatte: Der Ausbruch des Feuers war für ihn das erwartete göttliche Strafgericht, mit dem die Juden für ihren Frevel gebüßt hatten.
Hier endet die Überlieferung der Ereignisse, und das Schicksal des Ritters und seiner Nachkommen verliert sich im Nebel der Geschichte.
Die Wallfahrtskirche aber, die damals zur Sühne errichtet worden war, überdauerte die Jahrhunderte und Jahr für Jahr pilgerten die Gläubigen zu diesem Gnadenort, um das Gelübde ihrer Vorfahren zu erfüllen. Und sie betrachteten dabei die vielen Bilder, auf denen die Hostienschändung und das folgende göttliche Strafgericht dargestellt waren.
Erst vor wenigen Jahren nahmen Kunstbeflissene, die die Kirche besichtigten, Anstoß an den Bildern. Und tatsächlich geschah etwas, was man nur ganz selten miterleben kann: Die Kirche zeigte 50 Jahre nach dem Holocaust, den sie durch ihren Antisemitismus mit verschuldet hatte, ein Einsehen und ließ die Bilder so übermalen, dass der Hostienfrevel nun nicht mehr den Juden, sondern ganz allgemein Übeltätern zur Last gelegt wurde.
Ob einmal eine Kirche errichtet wird zur Sühne für all das, was man den Juden angetan hat?
Wie muss man eigentlich beschaffen sein, wenn man den Beruf eines Pfarrers ergreift? Betrachten wir hier einmal diejenigen, die sich wirklich aus Berufung dafür entschieden haben, „Arbeiter im Weinberg des Herren zu werden“, wie die Kirche in der ihr eigenen Sprache zu sagen pflegt. Sind diese Menschen nicht ein wenig naiv, wenn sie glauben, dass sie ihren Beruf ein Leben lang ausüben können, ohne jemals an der Existenz Gottes zu zweifeln? Auch wenn ihnen ihr Glaube in jungen Jahren als völlig unerschütterlich erscheint, hält doch das Leben für sie Schicksalsschläge und andere Überraschungen bereit, die alles Bisherige über den Haufen werfen: So ist es bei einem katholischen Priester oft nur eine kleine Frau, die ihn in unlösbare Konflikte mit der Amtskirche bringt. Manchmal kann es aber auch passieren, dass jemand nur so da sitzt, über seinen Gott nachdenkt und sich beispielsweise fragt: Bin ich vielleicht nur Christ, weil ich in Bayern geboren und so erzogen wurde, wie es hierzulande eben üblich ist, und wäre ich nicht mit derselben Überzeugung Moslem, wenn ich in Damaskus aufgewachsen wäre? Und wenn es schon Moslems, Buddhisten, Christen usw. gibt: Ist das nicht Ausdruck der Tatsache, dass der Mensch eigentlich überhaupt nichts weiß und nur Sehnsucht danach hat, sich in seinen Nöten an ein göttliches Wesen wenden zu können? So denkt manch einer wie jener Dichter:
Oh Gott!
Klapperstorch und Osterhase,
Krampusse und Nikolase –
Alle sind sie nur erfunden,
Sind mit der Kindheit mir entschwunden.
Und Lieber Gott, was ist mit dir?
Bist du noch da? Dann zeig es mir!
Und wenn Gott dann kein Zeichen gibt: was tut ein Pfarrer, wenn er Zweifel hat?
Genug der Vorbemerkungen! Schauen wir uns doch einmal an, wie es einem jungen Pfarrer in Schatzburg ergangen ist. In der dortigen alten gotischen Kirche steht eine der „schönen Madonnen“, wie der Fachausdruck für die vollendeten Meisterwerke aus der Blütezeit jener Kunstperiode lautet. Was das Besondere an der Schatzburger Madonna ist: Sie weint an Mariä Empfängnis. Und deshalb pilgern an diesem Tag Tausende von Gläubigen zu ihr, um zu schauen, ob sich das Wunder wiederholt. Für den Fall, dass die Madonna einmal nicht weinen sollte, gibt es die schlimmsten Prophezeiungen: Krieg, Hunger, Seuchen, Krisen...
Besonders fromme Pilger kommen sogar zu Fuß aus Polen, weil ihre Vorfahren hier einmal ihr Geld als Erntehelfer verdient hatten.
Читать дальше