„Alles gelogen!“ dachte der Ritter und der Widerwillen, den er gegenüber dem Juden empfand, verwandelte sich in blanken Hass, denn er ahnte, was da kommen würde: entweder Rückzahlung oder Zinserhöhung! Der Ritter hatte nur einen Teil des fälligen Betrages für die Rückzahlung zur Verfügung, aber den wollte der Jude nicht annehmen. Er beharrte darauf:
„Der gesamte Betrag ist heute fällig – entweder alles oder nichts!“
Der Ritter verlegte sich aufs Bitten, was ihm gerade gegenüber diesem Menschen zutiefst zuwider war. Aber der Mann blieb hart. Einen Augenblick lang dachte der Ritter daran, das Problem durch Mord zu lösen, aber er wusste, dass dies keinen Sinn hatte.
Als könne der Jude Gedanken lesen, sagte er:
„Ich habe Ihre Schuldscheine nicht dabei. Sie liegen in einer venezianischen Bank, wo ich mir das Geld geliehen habe. Wenn ich nicht zahle, verdoppelt sich dort der Zins, so dass auch ich nun von Ihnen für die Verlängerung des Darlehens einen entsprechend höheren Zinssatz verlangen muss, ohne dass ich selbst etwas daran verdiene. Schuldner, die bei Fälligkeit nicht zurückzahlen, gelten nun einmal in Bankkreisen als hohes Risiko, und ein solches Risiko muss eben mit höheren Zinsen bezahlt werden. Das sind die harten Gesetze des Bankwesens. Gegen die kann ich nichts machen – so leid es mir tut.“
Der Ritter erbleichte. Er hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet, aber die Forderung des Juden übertraf noch seine düstersten Ahnungen. Er konnte sich ausrechnen, wann seine ganzen Besitztümer dem Juden zufallen würden. Dementsprechend gierig leuchteten dessen Augen, wie der Ritter wahrzunehmen glaubte. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als eine vom Juden schon vorbereitete Schuldurkunde mit dem doppelten Zinssatz zu unterzeichnen. Dabei wäre ihm noch beinahe vor lauter Zorn ein Fehler unterlaufen. Im letzten Moment setzte er bei der Unterschrift noch den Satz hinzu, dass diese Urkunde keine neue Schuld begründe, sondern nur einen Zahlungsaufschub dokumentiere.
„Ach ja! Gut, dass Sie das tun“, meinte der Jude. „Ich habe das vielleicht ein wenig unglücklich formuliert, aber Sie hätten sich auf mich verlassen können: Ich bin ein ehrlicher Mensch und hätte das Geld niemals doppelt verlangt. Sie kennen mich ja. Ich war immer zu Ihren Diensten, und Sie sind gut damit gefahren.“
„Du falscher Hund!“ dachte der Ritter, lächelte säuerlich-freundlich und versicherte, dass er im nächsten Jahr mit Sicherheit alles zurückzahlen würde. Beide wussten, dass dies aussichtslos war.
Der Ritter hatte eine unruhige Nacht. Alle möglichen Gedanken schossen ihm durch den Kopf: Wie sollte er jemals das Darlehen tilgen? Oder gab es einen Weg, das Problem anders zu lösen? Vielleicht konnte er den Juden ja nachts überfallen und ihm eine Quittung abpressen? Aber wie sollte man das anstellen? Der Mann war übervorsichtig und ging bei Dunkelheit nicht mehr auf die Straße. Man müsste ihn also unter einem Vorwand aus dem Haus locken. Während er so hin und her überlegte, kam sein Kutscher und sagte:
„Herr, es ist Zeit, zur Karfreitagsandacht in die Kirche zu fahren.“
In der Kirche verlas der Pfarrer die Leidensgeschichte nach Matthäus. Obwohl dort sehr drastisch das Martyrium Christi beschrieben wird, war dies dem Geistlichen anscheinend nicht deutlich genug. Er hielt eine kurze Predigt, in welcher er nochmals die Grausamkeit eines Todes am Kreuz drastisch ausmalte und die Darstellung mit den neuesten medizinischen Erkenntnissen über diese Hinrichtungsart ergänzte. Zwei Frauen waren davon so betroffen, dass sie ohnmächtig wurden und aus dem Gotteshaus getragen werden mussten.
Nun kam der Pfarrer auf den Kern seines Anliegens:
„Und wer hat unserem Herrn und Gott all dies angetan? Die Juden waren es, die unseren Heiland so grausam dahin geschlachtet haben. Und dann haben sie noch geschrien: ‚Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!‘ Aber was sehen wir? Die dreiste Brut dieser Verbrecher haust unangefochten in unserer Stadt und wird auch noch dadurch reich, dass sich keiner von ihnen um das göttliche Zinsverbot schert. ‚Mein Gott, mein Gott‘, kann ich da nur rufen: ‚Wie lange willst du das noch mit ansehen?‘“
„Gut gepredigt! Recht hat er!“ dachte der Ritter bei sich und im selben Moment kam ihm eine – wie er fand – geniale Idee, die er als göttliche Eingebung ansah, weil sie ihm zum einen in der Kirche gekommen war und zum anderen just in dem Moment, als der Pfarrer fragte, wie lange Gott noch zuschauen wolle. Der Ritter spürte deutlich in seinem tiefsten Inneren: Er war persönlich von seinem Schöpfer aufgefordert worden, den Frevel der Juden zu beenden. Und er wusste auch schon, wie seine gottgewollte Belohnung aussehen würde: Sein Darlehen würde sich dabei erledigen.
Als der Ritter an Ostern während der Messe zur Kommunion ging, tat er vorher so, als müsse er husten. Dabei trocknete er sich heimlich die Zunge mit dem Taschentuch ab und als der Priester ihm die Hostie in den Mund legte, hustete er ein zweites Mal, wobei er die Oblate verstohlen heraus nahm und in seiner Tasche verschwinden ließ.
Dann wartete er ab. Er hatte nämlich schon einen Plan.
Seine Tante, eine gottesfürchtige Frau, lag im Sterben. Die Familie hatte sich im Zimmer versammelt, um ihr in ihrer letzten Stunde beizustehen. Auch der Ritter war herbeigeeilt. Seine Tante war zeitweise bewusstlos und zeitweise murmelte sie etwas vor sich hin, was keiner verstand. So war es auch, als ein Kapuzinermönch kam und ihr die letzte Ölung spendete, die inzwischen Krankensalbung genannt wird. Dabei begann die alte Frau immer wieder, zusammenhanglose Worte zu flüstern, und der Mönch sagte:
„Frau von Hartzenstein, ich kann Sie nicht verstehen! Reden Sie doch bitte lauter und deutlicher!“
Aber die Frau brachte nur noch unartikulierte Laute heraus. Da trat der Ritter vor, beugte sich mit dem Ohr zu seiner Tante herunter und sprach laut und deutlich:
„Liebe Tante, wir haben uns immer gut verstanden, deshalb verstehe ich dich auch jetzt. Vertraue es mir an, was du zu sagen hast!“
Der Ritter legte sein Ohr fast auf den Mund seiner Tante, während diese nun wieder Worte vor sich hin wisperte, die nur er hören konnte. Dann richtete er sich plötzlich so auf, als ob ihm der Schreck in alle Glieder gefahren sei.
Alles redete wild durcheinander:
„Was ist?“ „Was hat sie gesagt?“
Der Ritter machte zunächst eine Kunstpause, um dadurch die Spannung zu erhöhen. Dann eröffnete er den versammelten Personen:
„Es ist etwas Furchtbares geschehen!“
Alles starrte ihn an. Dann fuhr er fort:
„Die Juden haben unseren Herrn ein zweites Mal gekreuzigt und zwar haben sie ihn an die große alte Eiche am Thingplatz genagelt. Das hat Gott meiner Tante offenbart und beschlossen, dass niemand aus dieser Stadt in den Himmel gelangen kann, bevor nicht diese Tat gesühnt ist. Meine Tante soll dies euch allen in Gottes Namen verkünden, bevor sie vor das Jüngste Gericht berufen wird.“
Vielleicht verstand die alte sterbende Frau noch diese Worte; jedenfalls regte sich offenbar furchtbar darüber auf, dass sie in ihrer letzten Stunde im Mittelpunkt dieses Dramas stand, das obendrein nur vorgespiegelt war: Sie versuchte mit weit aufgerissenen Augen, sich aufzusetzen, um zu protestieren. Aber das war zu viel für sie. Sie tat noch einen letzten tiefen Atemzug und verschied.
Im selben Augenblick stürzte alles aus dem Zimmer. Die kleine Schar brach zu der erwähnten Eiche auf, an der tatsächlich eine blutverschmierte Hostie angenagelt war. Der Leser weiß natürlich, was es mit dieser Hostie auf sich hat, aber das dumme Volk wusste es nicht. Man eilte in die Stadt zurück. Der Ritter übernahm die Regie. Er teilte die Leute ein, wer wen zu benachrichtigen hatte:
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