Der Kardinal hatte ein offenes Ohr für „gute Werke“, denn er war in seiner Jugend einmal Pfadfinder gewesen und daher darauf gedrillt worden, jeden Tag etwas Gutes zu tun, und sei es auch nur etwas ganz Kleines. Er hatte dann allerdings gefunden, dass es gar nicht so einfach war, nach diesem Grundsatz zu leben, denn wenn man den ganzen Tag im Büro saß und arbeitete, musste man schon die Arbeit selbst als etwas Gutes ansehen, um nach den Grundregeln der Pfadfinder seine Pflicht getan zu haben.
Der Kardinal nahm also freudig die Gelegenheit wahr, auf so einfache Weise wieder einmal einen Pluspunkt in seiner imaginären Liste der guten Werke verbuchen zu können, und ging ins Büro seines Kaplans hinaus. Er schüttelte dem Besucher freundlich die Hand und sagte:
„Ach, setzen wir uns doch in mein Zimmer!“
Nachdem sie beide dort an einem kleinen goldenen Barocktisch in roten damastbezogenen Sesseln Platz genommen hatten, ergriff der Kardinal das Wort:
„Wer, sagten Sie noch gleich, sind Sie?“
„Ich sagte, dass ich Jesus bin und den Papst sprechen möchte.“
„Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wollen Sie sagen, dass Sie derJesus sind?“
„Ja, der bin ich.“
„Entschuldigen Sie bitte, dass mein Begriffsvermögen etwas beschränkt ist. In der Bibel steht doch ganz klar, dass der Menschensohn in Herrlichkeit wieder kommen wird, aber doch nicht einfach so wie Sie.“
Der Kardinal fand es gut, sein Gegenüber in eine kurze theologische Debatte zu verwickeln, um ihn dann wieder nach Hause schicken zu können. Doch sein Gesprächspartner antwortete lapidar:
„Wir haben es uns da oben eben anders überlegt!“
„Nun, für mich waren die göttlichen Ratschlüsse immer etwas Unumstößliches, denn Gott ist vollkommen, und was er beschließt, ist von seiner umfassenden Weisheit getragen. Da kann es doch nicht sein, dass er es sich mal so und dann wieder anders überlegt.“
„Deswegen bin ich ja hier, um diesen Irrtum auszuräumen: Mein Vater ist anpassungsfähig. Die Bibel ist voll von Beispielen. Nehmen Sie beispielsweise die Sintflut. In seinem Zorn hat mein Vater die gesamten Lebewesen bis auf diejenigen in der Arche ertränkt. Hinterher hat es doch bereut und gesagt, er werde so etwas nie wieder tun, obwohl gerade Zeiten wie diese...“
„Ja, ja, die Zeiten sind schlimm, auch für die Kirche.“
„... weil sich die Kirche nicht anpasst. Die Kirche unterscheidet zu wenig zwischen unabänderlichen Geboten und solchen, die nur in die Zeit meines früheren Lebens gedacht waren. Das wollte ich mit meinem Stellvertreter besprechen, und darum muss ich ihn unbedingt treffen.“
„Leider ist Seine Heiligkeit, wie Sie als Jesus ja wohl wissen, alt und kränklich. Heute fühlt er sich unpässlich und hat alle Termine abgesagt. Es geht also leider nicht, dass Sie ihn besuchen können. Bitte haben Sie dafür Verständnis.“
„Ihr Kaplan sagte, der Papst sei nicht im Hause, und Sie behaupten, er sei krank. So können Sie mich nicht abwimmeln. Entweder lassen Sie mich jetzt zu meinem Stellvertreter oder...“
Der Kardinal erschrak und bekam Angst vor dem jungen Mann. Er drückte unauffällig auf einen Alarmknopf unter dem Tisch und schaute zur Tür, wo zwei Mann der Schweizer Garde erschienen. Als er dann wieder seinen Blick auf den Sessel gegenüber richtete, war dieser Platz leer. Der Kardinal fragte seinen Kaplan im Vorzimmer:
„Ist der junge Mann schon gegangen?“
„Nein, ich habe ihn nicht gesehen. Ich dachte, er sitzt noch bei Ihnen.
„Das ist aber sehr merkwürdig“, fand der Kardinal und zog sich in sein Büro zurück.
Am nächsten Tag traf der Kardinal zufällig mit dem Papst zusammen, wobei dieser plötzlich ohne jeden Zusammenhang bemerkte:
„Stellen Sie sich vor, wenn mir jetzt auf einmal Jesus erscheinen würde. Wie sollte ich wissen, dass er es ist. Und dann könnte ich ja keinem etwas davon sagen, denn sonst hieße es hier im Vatikan sicherlich: ‚Der alte Mann spinnt!‘ Und man würde über mich tuscheln, dass ich meine Heiligsprechung vorbereite. Sie wissen ja, wie die Leute hier sind.“
„Wie kommen Sie jetzt auf so etwas?“ fragte der Kardinal.
„Ach, nur so!“ antwortete der Papst.
Als der Herrgott vom Himmel auf die Menschheit herabblickte, fand er keinen Gefallen an ihr. Eigentlich müsste er eine zweite Sintflut über das Menschengeschlecht hereinbrechen lassen, fand er, aber dann erinnerte er sich daran, dass er seinen Zorn im Zaume halten wollte – so hatte er es damals versprochen. Eine neue Sintflut war auch nicht nötig, weil der Herrgott sah, dass die Menschen dabei waren, sich selbst zu vernichten. Und eines Tages war es dann so weit: In einem Labor in den USA waren neue Viren als biologische Waffe gezüchtet worden. Durch eine kleine Unachtsamkeit entwichen einige dieser Viren aus dem Sicherheitsbereich. Sie vermehrten sich ungeheuer und breiteten sich über die ganze Welt aus. Kein einziger Mensch überlebte.
Der Herrgott vermisste die Menschen, die seine Hauptbeschäftigung gewesen waren. Und so entschloss er sich zu einem Neubeginn. Weil er mit den Menschen keine gute Erfahrungen gemacht hatte, sah er sich unter den anderen Lebewesen um. Da fielen ihm die Ameisen auf, die ein bescheidenes, arbeitsames Leben führten. Und so beschloss er, diese Tiere an Stelle der Menschen als seine Lieblingsgeschöpfe besonders heraus zu heben: Er hauchte ihnen eine Seele ein und schuf für sie ein kleines Paradies, in welches er wiederum ein winziges „Bäumchen der Erkenntnis“ pflanzte. Genauso wie damals bei Adam und Eva verbot er den Ameisen ausdrücklich, Früchte von diesem Baum zu essen.
Natürlich war es wieder ein weibliches Wesen, wenn freilich auch nur ein kleines Tierchen, das neugierig darauf war, welche Erfahrungen ihr der Genuss dieser Früchte bringen würde. Und so schlüpfte das Ameisenweibchen heimlich durch ein winziges Loch, das unverschämterweise von einem Wurm hinein gebohrt worden war, in das Innere einer Frucht und begann zu fressen.
Wir ahnen natürlich, dass es Luzifer war, der hier in Gestalt eines Wurmes sein Unwesen getrieben hatte. Und wir sind auch nicht überrascht darüber, wie es weiter ging: Eine zweite Ameise männlichen Geschlechts war dem Weibchen gefolgt und ließ sich ebenfalls das Fruchtfleisch schmecken. Alles, was nun geschah, war, dass die Frucht faulte und mit einem lauten „Platsch“ zu Boden fiel. Dadurch wurde der Herrgott auf diesen Frevel aufmerksam.
„Strafe muss sein!“ sprach er und ließ die Ameisen von einem Engel mit flammendem Schwert aus dem Paradies vertreiben. Dann sah er zu seinem Sohn Jesus hinüber und sagte:
„Ich glaube, jetzt geht alles wieder von vorne an.“
„Nein“, antwortete Jesus, der an seine Kreuzigung dachte, „nicht schon wieder! Diesmal musst du ihnen schon so vergeben.“
3. Die Bibel: Hintergrundwissen
Während wir im Alten Testament öfter einmal einen Blick in das Leben droben im Himmel werfen dürfen, ist das im Neuen Testament anders: Wir erfahren relativ wenig über das, was sich vor der Geburt Jesu im Himmel abgespielt hat. Wie mag das wohl gewesen sein? Die wenigsten denken darüber nach und wenn sie es doch tun, hat jeder so seine eigenen Vorstellungen: Manche davon mögen vielleicht etwas blasphemisch klingen, aber so etwas kann schon vorkommen, wenn man von der Bibel im Stich gelassen wird und seiner Phantasie freien Lauf lässt:
Читать дальше