Der Pfarrer holte tief Luft:
„Ich könnte das niemals glauben, wenn nicht gerade Sie als Denkmalpfleger es mir gesagt hätten. Ich habe wirklich nichts davon gewusst. Deshalb ist ja auch im letzten Jahr das Wunder ausgefallen. Ich werde selbstverständlich das Notwendige veranlassen.“
„Wir sind ja als Beamte zur Verschwiegenheit verpflichtet. Wir würden nichts sagen. Es könnte also alles so weiter laufen wie bisher. Die Menschen brauchen ja so etwas für ihren Glauben.“
„Mit mir nicht. Für mich haben Glauben und Betrug nichts miteinander zu tun.“
„Als Atheist sage ich lieber nichts dazu.“
Nach diesem Gespräch war für den Pfarrer nichts mehr so wie vorher. Sollte er mit dem Bischof reden? Am einfachsten wäre es halt, die Verantwortung auf andere abzuschieben. Oder sollte er selbst entscheiden, wie es wohl auch zwei seiner Vorgänger getan hatten, bei denen die Wunder ausgeblieben waren?
Anscheinend war das Geheimnis des Wunders von seinen früheren Kollegen in der Generationenfolge immer weiter gegeben worden. Nur bei ihm hatte es nicht funktioniert, denn sein Vorgänger war schon in jungen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Nach einigen schlaflosen Nächten entschloss sich schließlich der Pfarrer, seinen Bischof brieflich über die Entdeckung des Amts für Denkmalschutz zu informieren und zu erwähnen, dass das Wunder in Zukunft ausfallen würde.
Kaum hatte er den Brief fertig gestellt, plagten ihn Gewissensbisse. Wie viel ärmer würde das Leben im Ort sein ohne die große Wallfahrt. Manch einer war auf die Einkünfte aus dem großen Ereignis angewiesen. Wie viele Menschen fanden Trost und Hoffnung vor der Madonna! Konnte er seinen Beruf nicht auch so auffassen, dass er sich als eine Art von Seelenarzt betätigte, wie er es oft im Beichtstuhl getan hatte? Und wäre es da nicht hilfreich für die vielen Verzweifelten, etwas zu haben, an dem sie sich festhalten konnten im „Meer der Verzweiflung“, wie es in einem Gebet hieß? Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort fand. Er legte den Brief an den Bischof in eine Schublade seines Schreibtisches und dachte an einen Ausspruch seines Vaters:
„Es gibt Dinge, über die man länger nachdenken sollte. Trotzdem fällen die meisten Menschen ihre Entscheidungen ganz spontan.“
Damit müssen wir den Pfarrer allein lassen mit seinen Problemen. Als diese Geschichte aufgeschrieben wurde, hatte er sich noch nicht entschieden. Wenn Sie wissen wollen, wie es weiter gegangen ist, müssen Sie schon selbst nach Schatzberg fahren und nachschauen.
Viele Menschen, besonders Frauen, durchleben Phasen, die von besonderer Frömmigkeit gekennzeichnet sind. Oft beginnt es bei den Katholiken schon in frühester Jugend mit der Erstkommunion. Die kleinen Mädchen werden herausgeputzt wie für eine Hochzeit, und glauben tatsächlich auch, sie seien nun Bräute Christi, weil man ihnen das so im Religionsunterricht beigebracht hat.
Auch die kleine Lisbeth fühlte sich nach ihrer Erstkommunion wie ein Fleisch gewordener Engel, und so trachtete sie danach, diesen Zustand des seligen Schwebens möglichst lange zu erhalten. Mit ihren 8 Jahren entschloss sie sich daher zu einer Art von religiöser Mutprobe. Weil sie auf ihrem täglichen Schulweg immer wieder am erzbischöflichen Palais vorbei kam, läutete sie – einer plötzlichen Eingebung folgend – an der großen, ehrfurchtgebietenden Messingglocke, die golden in der Morgensonne glänzte. Kaum hatte sie mit ihrem kleinen spitzen Finger auf den Knopf gedrückt, da wollte sie am liebsten schnell wieder davon laufen, aber es war schon zu spät, denn ein würdiger Herr, der wie ein schwarz gekleideter Weihnachtsmann aussah, öffnete die Tür. Er fragte freundlich:
„Na, wer bist denn du? Und was möchtest du hier?“
Lisbeth, die sich auf diese Frage innerlich vorbereitet hatte, antwortete wie aus der Pistole geschossen:
„Ich bin Lisbeth Heiger und möchte unbedingt den Herrn Erzbischof sprechen!“
„Also, wenn es so unbedingt sein muss, will ich mal nachsehen, ob er da ist. Setz' dich einstweilen hier hin!“
Er deutete auf eine Bank neben der Tür und entfernte sich. Lisbeth klopfte das Herz bis zum Hals. „Flucht!“ war der einzige Gedanke, den sie fassen konnte, aber sie fürchtete, dass sie mit ihren schwachen Kräften kaum die riesige Portaltür würde öffnen können. Außerdem: Was hätte es für einen Eindruck gemacht, wenn sie jetzt davon gelaufen wäre? Schließlich hatte sie ja dummerweise schon ihren Namen gesagt. So saß sie da und begann auf einmal, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was der Begriff „Arme-Sünder-Bank“ wohl zu bedeuten hätte.
Der würdige Herr in schwarz erschien wieder. Lisbeth musterte ihn kurz und schätzte ihn mindestens als Prälaten ein, denn er sah so aus wie der Mann auf dem Etikett vom „Prälatenwein“, den ihr Vater an Feiertagen zu trinken pflegte.
„Seine Eminenz, der Herr Erzbischof, lässt bitten“, sagte der schwarze Würdenträger freundlich.
Er hielt Lisbeth die Tür zu einem prächtigen Saal auf, an dessen Ende der Erzbischof an seinem Schreibtisch saß und über seine Brille hinweg das kleine Mädchen musterte. Mit der freundlichsten Miene, die sein Gesicht herzugeben vermochte, kam Hochwürden hinter seinen Akten hervor und streckte dem Kind seine alte faltige Hand entgegen:
„Grüß’ dich Gott! Wen haben wir denn da? Was kann ich für dich tun?“
Lisbeth rappelte wieder ihren eingeübten Satz herunter:
„Ich bin Lisbeth Heiger und wollte unbedingt den Herrn Erzbischof sprechen!“
Der Erzbischof hatte gemerkt, dass das kleine Mädchen damit „sein Pulver verschossen“ hatte. Er erkundigte sich daher nun freundlich und mit sichtlichem Interesse nach einigen Einzelheiten aus Lisbeths Leben:
„Wo wohnst du denn?“
„Waaggasse 7“, antwortete Lisbeth und war erleichtert darüber, dass ihr keine Frage aus dem Religionsunterricht gestellt worden war. Der Erzbischof fuhr fort:
„Und was macht dein Vater?“
„Der arbeitet!“
„Und die Mutter?“
„Die kocht gerade das Essen für uns.“
„Für wie viele muss sie denn kochen?“
„Für...für sieben!“ antwortete Lisbeth.
„Dann hast du also 4 Geschwister?“
„Ja!“
„Und verstehst du dich mit deinen Geschwistern gut oder gibt es schon mal hin und wieder Probleme?“
„Mal so, mal so, aber es geht schon.“
Lisbeth beantwortete diese Frage zögernd und ein wenig ängstlich, weil sie fürchtete, nun in eine Art Beichtgespräch verwickelt zu werden. Aber dann beendete der Erzbischof das Gespräch:
„Ich glaube, du solltest jetzt aber schnell heim gehen, damit sich deine Eltern keine Sorgen um dich machen!“
Lisbeth war hoch erfreut darüber, dass ausgerechnet Seine Eminenz solchen Anteil an ihrem Leben nahm, und verabschiedete sich höflich mit einem tiefen Knicks, bei dem sie die Ehrenbezeigung nachzuahmen versuchte, die sie kürzlich in einem Märchenfilm gesehen hatte. Dabei verlor sie beinahe das Gleichgewicht. Aber dann erhob sie sich und sauste davon.
Sie war stolz auf sich. Zu Hause berichtete sie von ihrer „Heldentat“. Ihre Mutter war allerdings weniger begeistert:
„Um Gottes Willen! In dem Gewand warst du beim Erzbischof? Was soll der von uns denken? Man zieht sich doch fein an, wenn man einen solchen Besuch macht.“
„Ach weißt du, Mama, der Liebe Gott schaut auf die Seele, nicht auf das Gewand.“
So lebte Lisbeth ein einfaches, frommes Leben bis sie 16 Jahre alt wurde und ihr etwas passierte, das sie zutiefst beunruhigte. Nein, es war keine Männergeschichte! Es war vielmehr etwas, für das es in ihrem Vokabular kein Wort gab, das je über ihre Lippen gekommen wäre. Fest stand nur eines: Es war eine Sünde gewesen und die musste gebeichtet werden:
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