„Das sind leichte Beruhigungsmittel. Ich gehe davon aus, dass Claire unter Albträumen leidet. Wenn sie möchte, kann sie abends eine Tablette davon nehmen.“
Ich begleitete den Arzt zur Tür und dankte ihm noch einmal zum Abschied. Er hatte Claire nicht erkannt, obwohl die Szenen vor dem Gerichtsgebäude und die Festnahme ihres Exmannes durch die Medien gingen. Scheinbar war er noch immer ein Gegner der modernen Medien. Manches änderte sich eben nie.
Als ich das Wohnzimmer betrat, half Bella gerade Claire beim Aufstehen. Ich sah auf den ersten Blick, dass Claire keine zwei Schritte schaffen würde. Sie verzog das Gesicht vor Schmerzen, doch es kam kein Laut über ihre zusammengepressten Lippen. Ich beeilte mich, an ihre Seite zu kommen, um sie notfalls aufzufangen.
„Claire, wo willst du hin?“ Sie sah aus wie ein Gespenst und wankte bedrohlich. Ich legte meine Hände an ihre Taille, um sie zu stützen. Sie zuckte nicht einmal, so wacklig war sie auf den Beinen. Bella sah Claire besorgt an. „Claire wollte sich in ihr Bett legen, aber sie wird die Treppe nicht schaffen.“
Claire lehnte mittlerweile mit geschlossenen Augen an meiner Brust. Sie war völlig erschöpft, was verständlich war. Ich hob sie kurzerhand auf meine Arme, was sie sich ohne Widerstand gefallen ließ. „Danke“, flüsterte sie müde und schlang ihre Arme um meinen Hals. Ein warmes Gefühl durchströmte mich. Diese zarte Frau, die so vertrauensvoll ihre Wange an meine Brust schmiegte, war so unglaublich stark und tapfer. Ich konnte nur mit Mühe dem Impuls widerstehen, sie auf die blasse Nase zu küssen. Ich spürte ihren Körper, der sich an mich drückte, unglaublich intensiv.
Sie sah mich mit ihren faszinierenden, grünen Augen an und hob auffordernd die Augenbrauen. Ein kleines, spöttisches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Mein Zimmer ist im Obergeschoss.“ Ihre Stimme klang amüsiert trotz ihrer Erschöpfung. Sie hatte mich dabei erwischt, dass ich sie anstarrte, das war mir klar. „Oder bin ich dir zu schwer?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn, was ihr im nächsten Moment ein gequältes Stöhnen entlockte.
Ich schnaubte verächtlich. „Soll das ein Scherz sein? Du bist ein Fliegengewicht“, entgegnete ich belustigt. Claires Lächeln vertiefte sich.
Gott, sie war wunderschön! Mein Herz schlug plötzlich viel zu schnell in meiner Brust. Diese Frau entfachte ein wahres Feuerwerk der Gefühle in mir, ohne es zu wissen. Ich wollte sie nicht mehr loslassen; ich wollte sie halten und beschützen, sie zum Lachen bringen und sie trösten.
Ich atmete tief durch und rief mich zur Besinnung. Claire war verletzt und ich stand da und träumte. Wie einen kostbaren Schatz trug ich sie durch die Diele und ging, langsamer als notwendig, die Treppe hoch in ihr Zimmer.
Dort angekommen legte ich sie behutsam auf die Laken. Bella scheuchte mich ungeduldig aus dem Zimmer. Ich gehorchte widerstrebend, da rief Claire leise nach mir. „Kommst du noch mal?“ Ich nickte und verließ das Zimmer, damit Bella Claire beim Auskleiden helfen konnte.
Auf dem Flur lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand und atmete tief durch. Was zum Teufel war nur los mit mir? Ich legte stets großen Wert darauf, alles unter Kontrolle zu haben. Was ich tat, war nicht ungefährlich; ein Fehler konnte Menschenleben kosten. Gefühle waren ein absolutes No Go, besonders wenn es sich um Personen handelte, deren Leben von unserem Plan abhing. Ralph hatte das bitter erfahren müssen, als Kim entführt wurde. Er war damals wie ein Irrer losgezogen, um die Frau zu befreien, die er liebte. Dabei hatte er sich und sein Team in Gefahr gebracht, weil seine Leute ihn nicht im Stich lassen wollten.
Als Bella aus Claires Zimmer trat, hatte ich mir vorgenommen, keine Gefühle zuzulassen. Punkt. Ausrufezeichen!
Kurz darauf stand ich vor Claire. Sie empfing mich mit einem zauberhaften Lächeln auf ihren schönen Lippen und ich verwarf meine heroischen Pläne. Stattdessen verzogen sich meine Lippen zu einem Grinsen, ohne dass ich einen Einfluss darauf gehabt hätte. Claire klopfte mit der Hand auf ihr Bett und sah mich auffordernd an. Dass sie meine Nähe nicht nur duldete, sondern regelrecht forderte, machte es mir endgültig unmöglich, auf Distanz zu bleiben. Die Vernunft hatte verloren – und ich war froh darüber.
Claire
Tom saß auf der Bettkante und lächelte mich an.
Er schien nicht sauer auf mich zu sein, und wenn doch, zeigte er es nicht.
Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich heute Morgen so kopflos aus dem Haus gelaufen war. Dass ich zu allem Überfluss mit dem einzigen Baum weit und breit kollidiert war, machte es nicht gerade besser. Bella und Tom hatten sich große Sorgen gemacht; eine Entschuldigung war mehr als angebracht.
„Es tut mir sehr leid, was geschehen ist. Ich kann verstehen, wenn du wütend auf mich bist.“
So, es war gesagt. Ich wusste, Tom würde mir nichts tun, aber allein die Vorstellung, er könnte sauer auf mich sein, machte mir zu schaffen.
Tom sah mich erschrocken an. Er nahm meine Hand in seine und bedachte mich mit einem Blick, den ich als liebevoll deutete.
„Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest, Claire. Niemand ist böse auf dich, im Gegenteil. Bella und ich haben uns Sorgen um dich gemacht.“
Plötzlich brach alles über mir zusammen. Die Angst, etwas für ihn zu empfinden, dann der fremde Mann mit dem Hund, der blöde Baum … Ich hatte erwartet, dass Tom mir Vorwürfe macht. Stattdessen saß er auf meinem Bett, hielt meine Hand und war einfach nur unglaublich lieb und verständnisvoll.
Ich hatte mir vorgenommen, tapfer zu sein, doch seine Reaktion war zu viel für mich. Unaufhaltsam quollen mir die Tränen aus den Augen. Es war, als hätte jemand Schleusen geöffnet, die jahrelang verschlossen waren. Erst kamen einzelne Tränen, dann brachen sie sich Bahn und schossen mir in Strömen übers Gesicht. Meine Stimme gehorchte mir nicht mehr und Tom verschwand hinter einem dichten Tränenschleier.
Ich spürte, wie er mich an sich zog und mich umarmte.
Es tat so gut, gehalten zu werden. Aus Furcht, er könne mich loslassen, klammerte ich mich wie eine Ertrinkende an ihn. Er strich mir sanft übers Haar und murmelte beruhigende Worte, die ich vor lauter Weinen nicht verstand. Es war mir egal; ich fühlte mich sicher und beschützt in seinen Armen. Ich steckte meine Nase in sein T-Shirt und sog seinen Duft in meine Lungen, während ich ihn unter Wasser setzte.
Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Meine Tränen versiegten irgendwann, dafür hämmerte es in meinem Schädel und meine Augen fühlten sich geschwollen an. Ich stöhnte leise, als ich den Kopf heben wollte. Erst jetzt bemerkte ich, dass Tom neben mir auf der Decke lag und mich in seinen Armen hielt.
„Hast du Schmerzen?“
Ich öffnete meine verweinten Augen und sah in Toms besorgtes Gesicht.
„Mein Kopf explodiert.“ Stöhnend griff ich mir an die Stirn, die hinter dem Mullverband pochte.
Tom löste sich von mir; ich hätte beinahe laut protestiert, konnte mich aber gerade noch zurückhalten. Er reichte mir ein Glas Wasser und eine Tablette.
„Die sind von Dr. Wegener. Du wirst noch ein paar Tage Kopfschmerzen haben. Nimm besser die Schmerztabletten.“
Dankbar schluckte ich die Tablette und trank das frische Wasser. Tom schüttelte mir das Kissen auf und deckte mich fürsorglich zu. Als er sich wieder auf die Bettkante setzte, war ich erleichtert. Ich wollte nicht, dass er ging. Wenn er bei mir war, fühlte ich mich sicherer. In einem seltenen Anfall von Mut griff ich nach seiner Hand. Er lächelte und strich mit dem Daumen über meine Fingerknöchel.
„Wenn du willst, bleibe ich hier. Du solltest jetzt aber etwas schlafen.“
Ich war wirklich todmüde. „Es ist in Ordnung, wenn du dich wieder hinlegen willst“, murmelte ich mit geschlossenen Augen. Innerlich betete ich, dass er mich wieder halten würde.
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