Nach dem Vaterunser und dem Segensspruch über die Gemeinde, zu dem die verbliebene kleine Glocke, weil in zu hoher Tonlage, eher beiläufig belanglos als wichtig und kraftvoll läutete, brauste die Orgel auf. Der Organist, ein älterer Herr mit grauem Haarkranz, hatte wohl sämtliche Register gezogen, als unter dem dröhnenden Fortissimo der Posaunen, das die Trommelfelle der Höchstbelastung aussetzte, die Fenster zum Klappern und die Wände zum Zittern brachte, die Gemeinde einstimmte und die letzten beiden Strophen des Lutherliedes sang; womit der Gottesdienst sein Ende nahm. Eckhard Hieromymus Dorfbrunner trat die beiden Stufen vor dem Altar herab und ging zum Westportal, um die Menschen, die sich von den Bänken erhoben und dem Ausgang zugingen, beim Verlassen der Kirche durch ein freundliches Kopfnicken zu begrüßen, ihnen die Segenswünsche und das, was Paulus im 8. Kapitel des 1. Korintherbriefes von der Erkenntnis und der Liebe, die aufbaut, gesagt hatte, mit auf den Weg zu geben. Die Menschen mit ihren blassen Gesichtern, in denen bei den Älteren die Sorgenfalten und bei den ganz Alten mit den Magergesichtern die nach vorn gekrümmten Rücken hinzukamen, sie alle grüßten freundlich zurück.
Einige gaben dem jungen Pfarrer die Hand, wobei einige Hände zitterten, wenn sie den Stock von der einen in die andere Hand wechselten. Sie dankten ihm für die Predigt, die ihren Eindruck nicht verfehlte, so die einen, die kraftvoll, so die andern, oder nachdenkenswert war, so die noch anderen. Der junge Pfarrer dankte für die freundlichen Worte, die er wohl verstand, dass sie nicht nur aus dem Kopf, sondern auch aus den Herzen kamen, wofür er besonders dankbar war. Eine ergraute Frau, die von ihrer Schwiegertochter am Arm geführt wurde, wischte sich bei der Begrüßung mit einem weißen Taschentuch die Tränen aus den Augen und sagte, dass ihr Sohn gefallen sei und ihre Schwiegertochter als Witwe zurücklasse, wo jetzt vier kleine Kinder keinen Vater mehr haben. Das ging dem Pfarrer sehr nah, der darauf so schnell nichts sagen konnte. Als er dann doch was sagen wollte, war die alte Frau mit ihrer Schwiegertochter bereits die Stufen vor dem Portal herabgestiegen. Ein Mann im mittleren Alter, der eine Kappe vor dem rechten Augen trug, drückte die Hand des Pfarrers und dankte ihm für die aufrichtigen Worte, als er darauf hinwies, dass das Wissen der Obrigkeit mit der Erkenntnis, wie sie Paulus auslegt, nicht übereinstimmt. "Herr Pfarrer, ich beglückwünsche Sie zu ihrem Mut, das so offen zu sagen; dabei haben Sie so Recht. Vielen Dank! Machen Sie weiter so!" Die Kirche hatte sich geleert, als Herr Krause mit dem Sammelbeutel die Sakristei betrat, wohin auch Eckhard Hieronymus Dorfbrunner ging. Dort hatten sich der Konsistorialrat Braunfelder mit Frau und Tochter, der Oberstudiendirektor Dr. Hauff mit Frau, der Gutsherr von Falkenhausen und drei Herren vom Minenkonsortium eingefunden, um den neuen Pfarrer zu begrüßen. Küster Krause strahlte dem eintretenden Eckhard Hieronymus mit den Worten "Das haben Sie gut gemacht!" ins Gesicht und gab ihm einen väterlichen Klaps auf die linke Schulter.
Der Konsistorialrat, der über dem schwarzen Anzug mit Weste und dem Stehkragen des weißen Hemdes das metallne Brustkreuz mit dem Gekreuzigten trug, wie es die Superintendenten zu tragen pflegten, vermied eine erste Stellungnahme zur Predigt. Mit dem offiziellen Gesicht eines Geistlichen der höheren Stufe stellte er den Neuling den Herren vom Konsistorium vor, die ihm freundlich die Hand gaben, aber so, wie sie in ihren schwarzen Anzügen mit den schwarzen Schlipsen waren, kein Wort verlauten ließen, wie sie die Predigt aufgenommen hatten. Nur Frau Dr. Hauff, die sich, weil es gang und gäbe war, bei der Anrede den akademischen Titel ihres Mannes gefallen ließ, meinte nach einer fast herzlichen Begrüßung, dass ihr die Predigt gut gefallen habe. Eckhard Hieronymus verstand die wohlmeinende Absicht, da sich die Herren der persönlichen Meinung enthielten, was er als schade, vielleicht sogar als peinlich empfand. Ihr Mann, der den Titel durch eine, wahrscheinlich philologische Dissertation erworben hatte, hörte die Worte seiner Frau, drehte sich vom Konsistorialrat ab und dem jungen Pfarrer zu, wollte als Oberschulmeister offensichtlich seiner Frau nicht nachstehen, und sagte mit dem Gesicht, dem die verfehlte Leutseligkeit nicht abzuleugnen war, dass er für seine Jungfernpredigt einen Text gewählt habe, der ihm, das wurde ihm rasch klar, aufs Herz geschrieben war. "Das ist sehr freundlich von ihnen", wollte Eckhard Hieronymus das faule Kompliment abwehren, was ihm nur teilweise gelang, weil nun der Oberstudiendirektor einen Monolog vom Stapel ließ, der das Wissen eines Schulmeisters zum Ausdruck brachte, von dem der Apostel Paulus doch sagte, und der Herr Direktor müsste es gehört haben, dass das Wissen aufbläst, das auf- und abblasbar ist, und das mit dem Menschen tut, der sich dieses Wissens bedient und sich damit hervorhebt.
Jedenfalls ließ sich Herr Dr. Hauff nicht bremsen, der von selbst die Notbremse auch nicht zog, als er geschichtliche Bekanntheiten aus dem Leben des Apostels von sich gab. "Das wissen sie sicher", setzte der Direktor schulmeisterlich hinzu, "dass Paulus als Sohn jüdischer Eltern zum Stamme Benjamin gehörte und gleichzeitig römischer Bürger war, dass er an der Ermordung des heiligen Stephanus beteiligt war und erst auf seinem Wege nach Damaskus durch die Erscheinung des auferstandenen Christus zum Glauben bekehrt wurde." "Ja, das weiß ich", bemerkte Eckhard Hieronymus. "Wissen sie auch, dass es Lukas war, der den Namenswechsel vom Saulus zum Paulus vermerkte, dass Paulus im Jahre 58 n.Chr. in Jerusalem festgenommen, bis 60 in Cäsarea gefangengehalten und dann vom Prokurator Festus nach Rom gebracht wurde?" "Paulus wurde nach Rom gebracht", sagte Eckhard Hieronymus, "weil sich Paulus als römischer Bürger für den Prozess, der ihm gemacht werden sollte, auf den Kaiser und das Corpus Iuris Romanum berief."
"Was sagen Sie da?, unterbrach der Konsistorialrat, der sich von den Herren vom Minenkonsortium abgewandt und sich neben den Herrn Oberstudiendirektor gestellt hatte. Eckhard Hieronymus wiederholte seinen Satz, den Konsistorialrat Braunfelder so nicht gelten lassen wollte. "Hat es denn einen Prozess gegeben?", fragte er. "Aber Herr Rat", fuhr nun der Oberstudiendirektor dazwischen, als hätte er einen Studienrat vor sich, den es zu belehren galt, "natürlich wurde ihm ein Prozess gemacht, dessen Verfahren allerdings wegen Mangels an Beweisen aufgehoben wurde. Das war in den Jahren 61 bis 63. Das Martyrium der Enthauptung erlitt Paulus erst im Jahre 67 nach erneuter Gefangenschaft in Rom." Der Konsistorialrat bekam einen roten Kopf und strich über das metallne Brustkreuz, offenbar um sich nach der kleinen Bildungsblöße innerlich zu fangen. Die letzte Frage war, ob Paulus, der um das Jahr 10 n.Chr. in Tarsus geboren wurde, den irdischen Jesus gekannt habe. Da gingen die Meinungen auseinander; der Direktor zuckte mit den Schultern, der Konsistorialrat tat sich schwer mit seinem 'Ja'. Eckhard Hieronymus bemerkte zu Paulus, weil ihm das wichtiger war als die geschichtlichen Daten, dass er ein leidenschaftlicher Mensch, ein Feuerkopf war, der sich ganz dem Ideal des Glaubens hingab. Für ihn war Gott alles, dem er mit absoluter Ergebenheit diente. Arbeit, Mühsal, Leiden, Entbehrungen und Todesgefahren begleiteten ihn durchs Leben. Er war ein unbeugsamer, unerschrockener Kämpfer seines Herrn Jesus Christus. Das Ereignis von Damaskus machte ihm die Einzigartigkeit der Erwählung als Apostel bewusst und verlieh Paulus ein gewaltiges Sendungsbewusstsein. Seine Erfolge in der Mission schreibt er allein der göttlichen Gnade zu.
Nun stellten sich die Herren vom Minenkonsortium dazu. Herr von Falkenhausen, der Gutsherr, der als letzter hinzukam, wollte etwas über den Bildungsgrad des Apostels wissen. Da sagte der Oberstudiendirektor, dass Paulus als Semit die griechische Bildung besaß, die er schon als Kind in Tarsus erhielt, die er durch die Berührung mit der griechischen, wie auch der römischen Welt ständig bereicherte. Dieser Einfluss kommt in Sprache und Sprachstil zum Ausdruck. "Paulus muss von der griechischen Philosophie von der Weltvernunft gewusst haben, die er mit der Vorstellung vom Aufbruch der menschlichen Seele zur göttlichen Welt verband", sagte Herr von Falkenhausen. "Wie meinen sie das?", fragte der Konsistorialrat. "Sie werden es im 2. Korintherbrief lesen", antwortete Herr von Falkenhausen, "ich glaube, es ist im 5. Kapitel, wenn Paulus sagt: solange wir im Leibe wohnen, wallen wir ferne vom Herrn, denn im Leibe wandeln wir im Glauben und nicht im Schauen." "Das ist ja interessant", meinte Dr. Hauff; worauf Eckhard Hieronymus aus dem 8. Vers zitierte: “Wir sind getrost und haben Lust, außer dem Leibe zu wandeln und daheim bei dem Herrn zu sein.”
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