Welche angenehmen Empfindungen die Erinnerungen an eine so erfreulich verbrachte Nacht im Kopf von Baschke auslösten, während er die Nummer 39, Amselstraße, im Auge behielt, wird sich jeder Leser mit einschlägigen Erfahrungen ähnlicher Art mühelos vorstellen können, deswegen sehe ich davon ab, das neuronale Blitze und Knistern in seinem Gehirn hier im Einzelnen nachzuzeichnen. Wichtig für unser Ziel der unparteiischen Wahrheitsfindung sind nur die Folgerungen, die Baschke aus seinen frisch zurückliegenden Erlebnissen zog.
Solche Alphafrauen, sagte er sich, sind nur zu halten, wenn man in der Lage ist, ihnen etwas zu bieten!
Zu einem anderen Schluss konnte ein nüchterner Mensch wie Baschke gar nicht gelangen. Ihm war deshalb deutlich bewusst, welch weitreichende Aussichten ihm der heutige Tag verschaffte, oder umgekehrt, in welches Risiko er sich begab.
Hier liegt für mich eine Chance, wie ich sie vielleicht nie wieder bekommen werde. Der Chef selbst hat mich auf den Fall angesetzt. Deggenhoff weiß genau, was er tut, der ist ein gnadenlos kalkulierender Rechner. Wie ein Komet steigst du empor, wenn du einen großen Fisch an Land ziehst. Auf der Stelle verdoppelt er dir dein Gehalt.
Baschke wird es dann heißen, seht euch den Baschke an, ein Vorbild für alle, ein herausragender Mann. Nein, das ist bei ihm keineswegs ungewöhnlich.
Wehe aber, wenn du versagst, dann landest du ganz unten in der Korrekturabteilung eine Etage tiefer - oder er setzt dich überhaupt vor die Tür. Die Post-Zeitung ist ein Haifischbecken, da fressen die großen die kleinen Fische. Das sind alles Kannibalen, die Starken mästen sich am Fleisch der Schwachen. Ist ja kein Wunder. Wir schreiben für die Massen, für das Volk sozusagen. Da muss jedes Wort genau sitzen, das wird von Millionen gehört und gelesen.
Deggenhoff hat ja recht, er hat immer recht.
Stellt euch eine einfache Hausfrau vor, schärft er seinen Leuten ein, oder den Postboten oder den Automonteur von nebenan. Die lesen euren Kram und wollen mit der Nachbarin darüber reden. Das tun sie aber nur, wenn sich ihnen jedes Wort in den Kopf brennt. Ich sage ‚brennen’, jedes Wort muss sich neuronal festfressen, in den Hirnwindungen stecken bleiben, sonst vergessen die Leute die voraufgehende Zeile, noch bevor sie bei der nächsten anlangen. Dann ist das Blatt gerade gut genug für das Klo. Versteht ihr, was ich damit sagen will? Brandsätze sollt ihr schleudern, Zündschnüre legen, womit ihr die öffentliche Meinung auflodern und explodieren lasst.
Vor Deggenhoff hatte Baschke einen ungeheuren Respekt. Er konnte ihm nicht gegenübertreten, ohne den Blick zu senken, so klein und unbedeutend fühlte er sich. Andererseits lebte er auf, sobald er ein lobendes Wort von ihm hörte. Er schrieb keine einzige Zeile, ohne sich bei jeder einzelnen die Frage zu stellen, ob sie vor Deggenhoffs Augen Gnade findet.
Baschke lehnte sich in seinem Wagen zurück. Warum eigentlich Amselstraße? Diese Behördentrottel! Die Parallelstraße haben sie Finkengasse genannt, und die nächste Abzweigung ist der Nachtigallenweg. Ob sie wohl auch einen Spatzenweg haben? Vermutlich deklinieren sie auf diese Weise die ganze Vogelwelt durch.
Die Familie v. Hochreith wohnt nicht weit von der Amselstraße entfernt, vermutlich eine noch bessere Gegend. Die Terrorfrau ist Tochter eines Bankiers, noch dazu eines ganz großen. Die Bank ‚Hochreith und Brüder’ kennt ja jeder – ein klingender Name. Deggenhoff hatte vor Ergriffenheit beinahe geflüstert, als er den Namen nannte: Julia v. Hochreith. Ihr wisst hoffentlich, was das heißt! Ein so großer Fisch geht uns nur alle zehn Jahre ins Netz.
Vor der ganzen Mannschaft hatte sich Deggenhoff die Hände gerieben.
Seht ihr, das macht den Fall erst sensationell, das gibt ihm die richtige Dimension. Wäre die Verbrecherin eine ganz gewöhnliche Frau zum Beispiel mit Migrantengeschichte, dann hätten wir es mit einem banalen Fall zu tun. Damit rechnet unser Land schon seit Jahren, aber dass eine von uns, eine aus der High Society, eine v. Hochreith...
Deggenhoff hörte gar nicht auf, sich die Hände zu reiben, und er sprach den Satz auch nicht zu Ende. Wir wussten ja ohnehin, was er meinte. Da zeigt sich erst, wie weit das Gift in den Volkskörper – Deggenhoff hatte tatsächlich das Wort ‚Volkskörper’ gebraucht – schon einsickern konnte.
Leute, schlug er mit der Faust auf den Tisch, damit auch jeder begriff, worum es für die Post-Zeitung geht. Diesen Fall müssen wir zu einem Riesenballon aufblasen – und wehe, wenn einer von euch ihn vorzeitig platzen lässt!
So war der Chef nun einmal. Schwenkt er eine Karotte vor deinem Gesicht, dann mach dich darauf gefasst, dass er in der anderen Hand mit der Peitsche knallt.
Baschke strich sich über den Bauch, eine Geste, die zu seinen Gewohnheiten gehörte, obwohl dieser Bauch bislang eine eher bescheidene Wölbung aufwies. Die Bewegung vollführte er immer dann, wenn er mit sich im Reinen war, und dazu hatte er wirklich Grund. Vor allen anderen Kollegen hatte Deggenhoff nämlich gerade ihn fixiert und ihm den Auftrag erteilt.
Baschke, hören Sie ganz genau zu. Die Information, die zur Festnahme Julia v. Hochreiths führte, stammt von ihrer Freundin Marianne Steuben. Die werden Sie kontaktieren und sie wie eine Zitrone ausquetschen. Sie müssen alles aus ihr herausbekommen, was sie jemals über die Hochreith gewusst oder gedacht hat. Hören Sie, absolut alles. Wie Sie das machen, das überlasse ich Ihnen, aber dass Sie es machen, ist ein Befehl, bei dem es für Sie und die Post um Tod oder Leben geht. Ich will, dass in den nächsten Tagen unser Land nur noch ein einziges Thema kennt: Die Terroristin Julia v. Hochreith.
Baschkes Golf stammte aus zweiter Hand, und man sah es ihm an: Die Sitze schon ziemlich verschlissen, der Lack an mehreren Stellen verkratzt. Ein Mann wie Baschke musste darunter leiden, war er sich doch deutlich bewusst, etwas viel Besseres zu verdienen. Das hatte er immer gewusst - und offenbar wusste es auch der Chef, sonst hätte er ihm diesen Auftrag gewiss nicht erteilt. Und natürlich wusste es auch die Frau, die ihn gestern zu sich in ihre Wohnung geladen hatte und ihm ihren Vornamen ‚Jutta’ erst in dem Augenblick verriet, als er sich auf dem Absatz zur Treppe von ihr schon verabschiedet hatte. Die Frau hatte ihn, Baschke, gesehen und nicht diesen dürftigen Untersatz. Damit angelt man sich bestenfalls eine Frau für eine einzige Nacht, aber nicht länger.
Bei der Zeitung ist das genauso. Die beschäftigen dich ein, zwei Wochen auf Probe. Dann musst du beweisen, dass du ein Zauberer bist, wie man ihn bei der Post haben will. Wenn du es verstehst, aus jeder Mücke einen weißen Elefanten zu machen, dann bist du einer von ihnen. Wenn du im Gegenteil den Elefanten siehst, aber aus ihm eine Mücke machst – dann bist du für sie auch nichts anderes als so ein Insekt. Du gerätst in das Gitternetz, dann gibt es momentan einen blauen Blitz, und das war’s.
Wisst ihr, was der Unterschied zwischen einem Könner und einem Versager ist?, hatte ihnen Deggenhoff auf ihrer letzten Redaktionssitzung zugeworfen. Ein Versager sieht einen Mann am Straßenrand stehen und eine Zigarette rauchen. Nicht mehr und nicht weniger, einen Mann mit einer Zigarette, das ist alles. Anders gesagt, er hat überhaupt nichts gesehen. Ein Könner sieht ebenfalls einen Mann mit einer Zigarette am Straßenrand, aber er blickt ihm ins Gehirn und liest jeden seiner Gedanken. In diesem Kopf, so ahnt er, wird gerade ein Raubüberfall ausgebrütet oder ein Flugzeugabsturz geplant oder ein politisches Attentat ausgedacht. Ein Könner, Baschke, der sieht niemals nur das, was ihm vor Augen steht, sondern sieht zur gleichen Zeit alles, was in seinem Kopf alles möglich wäre. Der Könner ist der echte Realist. In unserer Zeitung brauchen wir nur den Könner.
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