Er hatte in seinem Leben noch kein einziges Buch gelesen, außer einigen Comicheften in seiner Jugend, und er verstand überhaupt nicht, warum dieses vermaledeite Schreiben für Ella so wichtig war. Dass es für sie inzwischen wie ein innerer Zwang war, dem sie nicht widerstehen konnte und dies auch nicht wollte, konnte er absolut nicht nachvollziehen.
Für Ella war Schreiben noch besser als Übersetzen, das sie geliebt hatte. Jetzt stellte sie fest, dass sie es vermisste. Sie drehte sich von einer Seite auf die andere, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie Sarahs Geschichte im Kopf weiterentwickelt hatte – und zwar wieder auf Englisch. Nach einer Stunde wach herumliegen gab sie es auf, zog ein Paar Socken und eine Jacke an und ging zu ihrem Schreibtisch. Dort holte sie Schmierblätter und schrieb auf, was ihr im Kopf herumspukte. Nach gut einer Stunde hatte sie fast das komplette nächste Kapitel geschrieben. Auf Englisch. Jetzt endlich müde, sank sie ins Bett und schlief sofort ein.
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Am nächsten Tag fuhr sie ihre Mutter in die Seniorentagesstätte, wo der Leiter ihr einen Antrag auf Pflegestufe mitgab. „Versuchen Sie es einfach. Wahrscheinlich wird die Krankenkasse ihn zunächst ablehnen, aber beim zweiten Versuch könnte es klappen. Schließlich ist Ihre Mutter bewegungsmäßig stark eingeschränkt, sie kann ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst erledigen und sie hat beginnende Demenz.“
Ella fuhr heim und füllte in einem äußerst seltenen Anfall von Pflichtbewusstsein den Antrag gleich aus. Dann brachte sie ihn zur Post. Sie ging den knappen Kilometer sogar zu Fuß, somit hatte sie wenigstens ein bisschen Bewegung. Und dabei entwickelte sie das nächste Romankapitel. Bevor sie es jedoch aufschrieb, zwang sie sich, eine Inhaltsangabe zu verfassen und sie nach mehreren Verbesserungen an ihre Literaturagentin zu mailen. Anstatt danach an ihrem Roman weiterzuarbeiten, übersetzte sie die Inhaltsangabe einfach so aus Lust an der Freud auf Englisch und schickte sie als Mailanhang zu Catriona.
Am übernächsten Morgen, als sie ihre Mails durchlas, sah sie Catrionas Antwort. Sie war total begeistert. „Das wird eine super schöne Story, und ich kann sie wieder mal nicht lesen. Was für ein Jammer!“
Beim Badputzen kam Ella der Gedanke, dass sie Catriona die Freude machen und das erste Kapitel übersetzen könnte. Schließlich hatte sie für den aktuellen Roman noch keinen Verlagsvertrag unterschrieben, sie stand also nicht unter Zeitzwang und würde es sich somit leisten können, das Schreiben für eine Weile zu unterbrechen, um zu übersetzen.
Zwei Tage später existierte das erste Kapitel auf Englisch. Sie überarbeitete es gründlich, fand zu ihrem Ärger etliche Grammatikfehler, die sie gleich ausbesserte, mochte aber ansonsten, was sie übersetzt hatte. Es klang einfach gut, zumindest für ihre Ohren. Dann schickte sie diesen Teil an Catriona. Sie war gespannt, was ihre Freundin dazu sagen würde.
Kapitel 9
Sarah saß am Schreibtisch. Sie war seit gut zwei Wochen in Dingwall. Mit Erin war sie am ersten Samstag in Inverness und am Loch Ness gewesen. Sonntags hatten sie einen Flohmarkt in Tain besucht. Dort hatte sie eine Tunika mit Folklorestickerei für wenig Geld erstanden, die sie zum Sommerfest des Trust zu ihrer guten schwarzen Hose anziehen wollte. Passende Ohrringe aus kleinen Bernsteinen hatte sie dabei; sie stammten aus der Schmuckschatulle ihrer Tante.
Am letzten Wochenende war Erin mit ihr an die Westküste nach Ullapool gefahren, wo sie an dem langen Strand entlangspazierten. Auf dem Rückweg fuhren sie an der Küste entlang über Durness und Brora. Sarah war begeistert von der herrlichen Landschaft.
Inzwischen war es Freitag. Als Erin ihr erzählt hatte, dass jede Frau zum Sommerfest des Trust etwas zum Essen mitbringen würde, fragte Sarah, ob sie einen deutschen Kartoffelsalat zubereiten solle. Der Vorschlag wurde freudig angenommen. Am nächsten Tag würde das Fest nachmittags um vier anfangen.
Sie hatte bereits die Kartoffeln abgekocht und sich jetzt wieder ihrer Übersetzung des Immobilienkatalogs zugewandt. Seit Montag saß sie daran. Die Übersetzung an sich war fertig, aber sie wollte sie noch einmal überarbeiten, weil sich oft Flüchtigkeitsfehler in einen Text einschlichen, die sie erst nach mehrmaligem Lesen entdeckte.
Von den drei Romanen, die sie sich gekauft hatte, hatte sie bisher nur einen gelesen. Sie hatte auch noch keinen Ausflug alleine unternommen, weil sie diesen Übersetzungsauftrag zuerst fertigstellen und an den Kunden schicken wollte.
Eine Arbeit, die anstand und zu einem bestimmten Termin beendet sein musste, machte sie immer nervös. Sie war noch nicht so versiert im Übersetzen, dass sie Routine darin hatte. Und sie musste sich in jeden Text zuerst einlesen. Der Stil, die Wortwahl, das Nichtgesagte, all dies musste bei der Übersetzung mitschwingen.
Als sie fertig war, beugte sie sich nach hinten und streckte die Arme hoch. Ihre Schultern waren verspannt. ‚Vielleicht sollte ich ein bisschen rausgehen‘, dachte sie. Es hatte seit Sonntagnachmittag ununterbrochen geregnet, ein leichter Landregen, der irgendwie alles durchdrang. Aber seit einer Stunde hatte es aufgehört.
Kurz entschlossen schickte sie die Mail mit der Übersetzung und die dazugehörige Rechnung an den Kunden, dann fuhr sie ihren Laptop herunter. Sie hatte es geschafft!
Es war früher Nachmittag und sie musste raus. Wer weiß, dachte sie, was da ab morgen auf mich zukommt, falls ich diesen Großauftrag vom Trust bekomme. Sie war sich sicher, dass sie keine Probleme haben würde, die Broschüren zu übersetzen. Und sie freute sich darauf, dadurch mehr über Schottlands Geschichte und Kultur zu erfahren.
Die Frage war nur: Bis wann sollte sie die Übersetzungen fertig haben? Bei fünfzehn Stunden Unterricht pro Woche, den sie ja vorbereiten musste, den Übersetzungen für den Immoblienkunden und acht Stadtführungen pro Monat blieb ihr nicht allzu viel Zeit, einen weiteren Übersetzungsauftrag anzunehmen, der mehr als einige Seiten umfasste.
Andererseits hätte sie so die Gelegenheit, im Englischen drinzubleiben. Die Stadtführungen fanden zwar meist auf Englisch statt. Aber dabei übte sie sich nur im Mündlichen. Die Übersetzungen für Frankreich und zehn der Unterrichtsstunden waren auf Französisch, die restlichen Stunden auf Spanisch. Und sie wusste, wie schnell man eine Sprache verlernte, wenn man sie nicht ständig praktizierte. Wenn sie für den Trust übersetzte, wäre auch Englisch repräsentiert.
Sie duschte und zog sich an, nahm ihre Sommerjacke mit und ging zur Bushaltestelle weiter vorne, wo sie den Bus ins Zentrum nehmen würde. Sie rannte die letzten paar Meter, weil er gerade ankam. Sie setzte sich auf einen Platz hinter dem Fahrer und dachte: Und wie reagiere ich, wenn die mir nicht genug zahlen? Wussten sie überhaupt, was Übersetzungen kosteten? Vielleicht konnte sie mit ihnen einen Pauschalpreis aushandeln.
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Sie bummelte ziellos durch die Straßen und landete schließlich bei der Buchhandlung. Sie drückte sich die Nase am Fenster platt, ging aber nicht hinein. Zum einen plauderte Ruth gerade mit einem Kunden und hatte keine Zeit für sie. Zum anderen hatte sie ja bisher nur einen der Romane gelesen, die sie zwei Wochen zuvor hier gekauft hatte. Sie war abends meist mit Erin unterwegs gewesen, sobald sie Feierabend hatte. Im Kino, im Pub, einmal waren sie essen gegangen.
Sie ging weiter, hatte kein bestimmtes Ziel, stand aber mit einem Mal vor der Tourist Info und sah durchs Fenster, wie Erin mit einem Mann und einer Frau sprach. Spontan ging sie hinein.
Als Erin sie sah, rief sie erleichtert: „Du kommst wie gerufen! Die beiden scheinen kein Englisch zu verstehen. Kannst du mir mal helfen?“
Sarah nickte den beiden zu und fragte sie auf Englisch, woher sie denn kämen.
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