Frau Messerschmidt war Sinrots Sekretärin. Mit seiner Vermutung hatte Sinrot im Übrigen nicht richtiggelegen. Nicht Frau Messerschmidt war es gewesen, die die Tür geöffnet hatte und so den Kaffeeduft aus ihrem Raum in das Foyer hatte entweichen lassen. Doch hierzu später. Gerhard Sinrot hatte den Bürokomplex erreicht.
Dahn, ein Abend im Oktober 1972
Die Arme verschränkt und wie ein Denkmal seiner selbst stand Egon Sinrot in der Tür zu seiner Bibliothek und musterte seinen Sohn Gerhard, der in ein Buch vertieft in einem Ohrensessel saß. Auf einem Tisch neben dem Sessel stand eine Tasse. Der würzige Duft von Malzkaffee lag im Raum. Herrn Sinrots kantiges Gesicht lohte starr im Abendrot. Seine schwarzen, nach hinten gekämmten Haare glitzerten hart. Seine graublauen Augen glänzten kalt wie Murmeln. Er hob die rechte Braue und sagte leise, aber streng:
„Gerhard.“
„Was ist, Vater?“, schreckte Gerhard auf und stierte ihn an.
„Sind deine Ohren verstopft?“
„Nein. Warum?“
„Deine Mutter hat schon drei Mal gerufen! Das Abendessen ist fertig.“
„Oh, Entschuldigung! Ich hab’s nicht gehört“, richtete sich Gerhard angespannt in seinem Sessel auf.
„Was liest du da überhaupt?“, reckte Herr Sinrot seinen Hals. In einer vorsichtig annähernden Bewegung zeigte Gerhard seinem Vater das Buch, „Das Orakel vom Berge“ von Philip K. Dick. Das Werk handelte von einer alternativen Realität, in der Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte. Herr Sinrot beäugte es kritisch und wunderte sich: „Wusste gar nicht, dass dich Science–Fiction interessiert. Sonst schmökerst du doch nur in Klassikern herum.“
„Och, das hier ist zur Abwechslung auch ganz interessant.“
„Ich weiß. Aber wäre es nicht sinnvoller, Physik zu büffeln, als sich mit derart Trivialem zu beschäftigen?“
„Wieso trivial? Ich finde ...“
„ Habe ich dich nach deiner Meinung über dieses Buch gefragt?“, hob Herr Sinrot sein markantes Kinn.
„Nein.“
„Also“, ließ er es verharren. „ Hastdu heute überhaupt schon deine Übungsaufgaben in Physik gemacht?“
„Nein, die wollt ich nach ...“
„ Sogeht das nicht!“, senkte er es wieder, „Gib mir mal das Buch!“ Gerhard gab seinem Vater das Buch. „Das Buch sperre ich vorerst weg und du wirst diese Woche das doppelte Pensum in Physik machen! Diesmal allerdings wirklich Physik, und nicht wieder irgendwelche Bildchen malen!“
„Hat Rainer diesen ...“
„Von wem ich das weiß, spielt keine Rolle!“, unterbrach Herr Sinrot seinen Sohn schroff, „Fakt ist, dass du dich nicht auf deine Pflichten konzentrierst.“
„Aber ich ...“
„Kein ‚aber‘! Und eine Woche Ausgangssperre gibt’s obendrein. Für das ‚aber‘.“
„Aber ...“
„Möchtest du zwei?“, neigte Herr Sinrot seinen Kopf.
„Nein, Vater“, druckste Gerhard.
„Gut“, lächelte Herr Sinrot, „Und jetzt komm. Mutter und Rainer warten schon.“
Den Blick wie eine rostige Kerkerkette über den Boden schleifen lassend trottete Gerhard seinem Vater hinterher.
Im Esszimmer setzten sie sich kommentarlos an den Tisch, Herr Sinrot seiner Frau, Gerhard seinem Zwillingsbruder Rainer gegenüber. Frau Sinrot, eine unscheinbare Frau mit glatten braunen Haaren und matten grauen Augen, lächelte. Rainer, von Gerhard äußerlich nur durch die Kleidung unterscheidbar, grinste.
Gerhard nahm ein Brötchen in die Linke und ein Messer in die Rechte. Er fixierte Rainer und zog die Brauen zusammen. Rainer spitzte genüsslich die Lippen. Gerhards rechtes Unterlid zuckte, doch dann entspannten seine Züge. Mit kühlen Augen sah er seinen Bruder an, während seine feingliedrige Hand das Messer hielt, dessen Spitze sich Stück für Stück dem Brötchen zuneigte. Ohne, dass der Beginn gerichteten Bewegens hätte festgemacht werden können, stach Gerhard diese behutsam in die knusprige Masse, verharrte, und schnitt, sein Gegenüber genau im Auge behaltend, das Brötchen exakt in der Mitte entzwei. Bedächtig legte er eine Scheibe Gelbwurst auf die untere Hälfte. Unverhofft die Stille tötend mahnte ihn sein Vater:
„Da gehört Butter drauf!“
„Aber ich mag keine Butter zur Wurst!“, fuhr Gerhard zischend wie ein Krokodil, dem man auf den Schwanz getreten war, zu seinem Vater herum, doch fasste sich sofort und gurgelte wie das Fröschlein vor dem Storche: „Ich find das ekelig.“
„Widersprich nicht!“, sagte Herr Sinrot ungerührt, „Sonst muss ich mich ärgern.“ Gerhard nahm die Wurst von seinem Brötchen und bestrich es widerwillig mit Butter. Nach einigem Kratzen schickte er sich an, die Wurst wieder darauf zu legen, aber Herr Sinrot schüttelte den Kopf und sagte unduldsam: „Gerhard! Nennst du das ‚ein Brötchen streichen‘?“ Gerhard schnaufte. Herr Sinrot fuhr, seinen Sohn stechend ansehend, fort: „Da schauen doch noch überall Krümel raus und die Butter ist ganz unregelmäßig verteilt!“ Herr Sinrot hielt mit erhobener rechter Braue inne, neigte Gerhard die rechte Stirn zu und ergänzte sanft und mit herablassend funkelnden Augen: „Oder soll ich dir mit deinen dreizehn Jahren vormachen, wie man ein Brötchen streicht?“
„Nein, ich weiß schon“, knirschte Gerhard.
Sorgfältig korrigierte er den Butterbelag seines Brötchens. Wie sehr wünschte er sich in diesem Augenblick, dass es auch für ihn eine alternative Realität gäbe. Nicht so eine wie in diesem Buch! Die war ja furchtbar, mit diesen dummen Naziwichsern! Nein, eine schöne. Eine, in der es egal war, wenn er mal eine Zwei in Physik nachhause brachte. Eine, in der er keine Butter zur Wurst essen musste! Eine, in der Vater keinen Mund hatte! Oder ihm ein Arschloch wuchs als Mund, wenn er eine solche Scheiße von sich gab! Gerhards Hand ballte sich um den Griff des Messers und seine Augen blitzten bös. Und eine, in der Rainers doofe Grinsfratze, ach, der ganze Kopf an der Wand hing! Ausgestopft und mit Hörnern, die er diesem blöden Bock in den Schädel treiben würde! Hineinhämmern würde! In sein stinkendes, fauliges Eitergehirn! Tief hineinhämmern würde!
Gerhards Hand entspannte, wohlig, als wäre ihm der Kuss eines Feenschattens darüber gefahren. Hauchend. Leckend. Kühl. Feucht. Feucht und kühl leckend. Und während er die Butter auf sein Brötchen strich, glänzten seine Augen reglos wie der stille Spiegel eines eisigen Grottensees. Doch unter diesem Spiegel kreisten Gerhards Gedanken wie Olme um das nie gesehene Licht:
Vielleicht gab’s ja wirklich eine alternative Realität. Vielleicht sogar viele. Vielleicht war’s ja so, dass sich das Leben an jedem Punkt, an dem man über „was zu tun sei“ zweifelte, in zwei Realitäten aufspaltete. In eine, die das Herz gebar, und eine, die der Angst gefiel. Aber für ihn ging’s doch immer weiter, wie’s der Angst gefiel! Gab’s denn bei ihm kein Selbst, das mit dem Herzen entschied? Oder kannte er dieses Selbst nicht? Versteckte es sich bloß, um bei jedem Zweifel hervorzuschnellen und ihm die Realität des Herzens wegzuschnappen? Und ihm blieb nur die der Angst! Womöglich hatte er ja Glück und bekäme irgendwann mal, wenn er wieder zweifelte, die Realität des Herzens ab. Die, die ihm sonst verborgen blieb. Die, die ihm immer einen Schritt voraus war. Die, die ... Oder er würde einfach mal machen, was er sich nicht traute! Endlich machen, was er wo...
„Wird das mal was?“, zerriss Herr Sinrot Gerhards Fantasien.
„Ja“, meinte Gerhard wie aus einem Traum erwachend; er legte das Messer zur Seite, die Gelbwurst auf das Brötchen – die Butter hatte er brav aufgetragen –, biss, kaute und dachte:
Ja. Irgendwann würde er tun, was er sich nicht traute. Irgendwann. Wenn er genug Kraft gesammelt hätte, stärker wäre, der Moment günstig wäre. Genau so lange würde er warten. Aber dann, wenn die Zeit reif wäre, wenn sie nicht aufpassten, diese Idioten, dann würde er zupacken, ach „zupacken“, zubeißen würde er, und sie in Stücke reißen . Genau. In Stücke reißen würde er sie und ... (er schluckte den Bissen hinunter).
Читать дальше