„Hast du Probleme gehabt?“ fragte Charlotte. Sie hatte die ganze Zeit hinter ihm gestanden. Ludwig richtete sich auf und schüttelte den Kopf. Er vermied es, sie anzusehen. „Wegen Bavaria?“ fragte sie. Ludwig nickte und begann, den Stubenwagen leicht hin und her zu schaukeln. Gleich würde sie sagen, dass sie sich das gedacht hätte und dass er halt Therese hätte angeben sollen, nur Therese. „Sie ist gar nicht angemeldet?“ fragte Charlotte. Ludwig nickte. Er ließ den Stubenwagen los, sah sie endlich an und sagte: „Wenn er mir anders gekommen wär´ - verstehst?“ Charlotte verstand ihn nicht, natürlich nicht. Sie sah ihn bloß an, wartete darauf, dass er es ihr erklärte. Ludwig schwieg. Wie sollte er erklären, dass er stur gewesen war und auf dem Namen Bavaria bestanden hatte? So ein Zirkus, würde sie sagen, wegen eines Namens, der gar keiner ist. „Bavaria ist ein Name“, sagte er nur und behielt seinen Entschluss, zum Bürgermeister zu gehen und auf den Tisch zu hauen, für sich. In diesem Augenblick machte die Kleine ihre Augen auf und gab einen quiekenden Laut von sich. „Schau“, sagte Ludwig, „sie ist einverstanden – mit ihrem Namen!“
Melanie Breitenstein verließ das Zimmer ihrer Tochter Elisabeth. Vorher hatte sie bei Johannes nachgesehen. Beide Kinder schliefen. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo der Fernseher lief, ein italienischer Spielfilm. Davor hatte es eine Talkshow gegeben. Ihr Mann hatte am runden Tisch gesessen und, wie sie fand, eine gute Figur abgegeben, wieder einmal. Worüber gesprochen wurde, hatte sie vergessen. Max hatte seinen blauen Anzug getragen, im Fernsehen hatte er heller gewirkt, dazu ein dunkelblaues Hemd mit dezent gestreifter Krawatte. Sie selbst hatte das für ihn ausgesucht, am Nachmittag, als er für eine halbe Stunde nach Hause gekommen war, sich geduscht und ein wenig Gel in die Haare geschmiert hatte. Als er vor dem Spiegel gestanden hatte und sich mit den Fingerspitzen noch einmal durch die Haare gefahren war, da war ihr warm geworden - mit diesem gut aussehenden, intelligenten, erfolgreichen Mann war sie verheiratet, Melanie Breitenstein, früher Melanie Niederegger, Verkäuferin in einer Modeboutique, Melanie Niederegger, die nicht einmal Abitur hatte, nur Realschulabschluss, die hin und wieder als Model genommen wurde, für Kaufhauskataloge oder Werbebroschüren, deren Vater Busfahrer gewesen war, zunächst bei Reiseunternehmen und dann bei der Stadt und deren Bruder auf dem Bau arbeitete. Sie war stolz auf diesen Mann, den Vater ihrer Kinder, der es weit gebracht hatte und es noch weiter bringen wollte, obwohl er sich als Generalsekretär und rechte Hand des Ministerpräsidenten ihrer Meinung nach mit dem Erreichten zufrieden geben und sich den anderen Dingen des Lebens widmen sollte, der Familie zum Beispiel und den Kindern. Aber das behielt sie für sich.
Seit dem Ende der Talkshow waren zwei Stunden vergangen. Max müsste längst zu Haus sein, vom Studio bis zu ihrem Haus war es nicht mehr als eine halbe Stunde, um diese Zeit jedenfalls. Melanie sah im Kühlschrank nach. Mehrere Flaschen Bier lagen dort und auch zwei Flaschen Champagner. Wenn Max am Abend oder in der Nacht nach Hause kam, müde, ausgelaugt und genervt von der Arbeit und den Menschen, mit denen er sich abgeben musste, Ignoranten die meisten, wie er sagte, trank er meistens Bier. Aber heute war ein besonderer Tag, zu dem Champagner besser als Bier passte – ihr Hochzeitstag, der zehnte. Auch diesmal würde Max ihn vergessen haben, obwohl sie ihn selbst in seinen Terminkalender eingetragen und es nicht der Sekretärin überlassen hatte, der blonden, hübschen, drallen, deren Name Melanie grundsätzlich vergaß.
Sie trat ans Fenster und sah hinaus auf die Straße. Sie war leer, bis auf ein einziges Auto, einen Sportwagen, der vor dem Nebenhaus parkte, dem größten und teuersten in der Straße. Er gehörte dem Sohn, Erbe einer Fleischereikette mit Filialen nicht nur in München, sondern in ganz Bayern, ein Student angeblich. Ein Auto näherte sich, aber es fuhr vorbei.
Melanie sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Wahrscheinlich saß Max mit seinen Kontrahenten, denen er in der Talkrunde so vehement widersprochen, die er so wirkungsvoll fertiggemacht hatte, irgendwo zusammen, trank ein Bier mit ihnen, und alle klopften sich gegenseitig auf die Schultern und beglückwünschten sich zu dem prima Schauspiel, das sie dem nichtsahnenden Publikum wieder einmal geboten hatten. Vielleicht trieb er sich auch in einer Bar herum, aus beruflichen Gründen natürlich.
Sie ging vom Fenster weg und machte es sich auf der Couch bequem. Der Fernseher lief immer noch. Es gab Nachrichten, Überschwemmungen, irgendwo in Asien. Die Haustür wurde aufgeschlossen. Melanie wachte auf. Sie war eingeschlafen, merkte sie. Im Fernsehen umarmten sich zwei Männer, küssten sich. Sie schaltete den Apparat aus, setzte sich aufrecht, blätterte in der Zeitschrift, die auf dem Tisch lag, ein Wochenmagazin, und bemühte sich, nicht verschlafen zu wirken.
„Du bist noch wach?“ fragte Breitenstein. Melanie sah auf die Uhr. Es war halb drei. „Ich habe auf dich gewartet“, sagte sie. Auf dem Tisch standen rote Rosen, genau zehn, in einer chinesischen Vase. Max hatte die Vase von einer Dienstreise mitgebracht. Er gähnte, bemerkte die Rosen nicht. „Ich muss nach Berlin“, sagte er. Melanie stand auf, ging zu ihm, küsste ihn auf den Mund und sagte: „Weißt du, was heute für ein Tag ist?“ Er roch nach Alkohol und Zigaretten, obwohl er gar nicht rauchte und nach einem Parfüm, das Melanie nicht kannte. „Nein“, sagte er, „ich weiß es nicht.“ Melanie nahm die Blumen aus der Vase, hielt sie Breitenstein hin und sagte: „Alles Gute zum Hochzeitstag!“ Wasser tropfte von den Stängeln auf den kleinen hellen Perserteppich, der an dieser Stelle auf dem Parkettboden lag und hinterließ dunkle Flecken. Breitenstein nahm den Strauß und steckte ihn wieder in die Vase. „Tut mir leid, Liebes“, sagte er. „Ich hatte viel um die Ohren.“ Dann gab er Melanie einen Kuss auf die Stirn und fügte hinzu: „Danke, dass du es so lange mit mir ausgehalten hast.“ Melanie überlegte, ob sie ihn nach dem fremden Parfüm fragen sollte und warum er so spät nach Hause gekommen war, ausgerechnet an ihrem Hochzeitstag, der in seinem Kalender gestanden hatte, aber sie entschied sich, darüber hinwegzusehen. Vermutlich steckte gar nichts dahinter, er hatte nach der Sendung mit den Leuten vom Fernsehen zusammengesessen und Anfragen von Zuschauern beantwortet und danach in der Redaktion noch etwas getrunken und neben jemand gesessen, der geraucht und nach diesem Parfüm gerochen hatte, der Maskenbildnerin zum Beispiel, die sich an den prominenten Politiker herangeschmissen und nicht gemerkt hatte, dass sie dem ziemlich lästig war. „Lass uns schlafen gehen“, sagte sie. Den Champagner würden sie ein anderes mal trinken, und das Andere, das sie sich für heute Nacht vorgenommen hatte, wie damals, vor zehn Jahren, in dem kleinen Hotel am Tegernsee, das würden sie ein anderes mal machen, morgen oder übermorgen.
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