"O Jugend, Jugend, wirst du nie
der Freude reines Mass bezirken?
O Hoheit, Hoheit, wirst du nie
vernünftig wie allmächtig wirken?"
Ferdinand stellte sich unter die Brause und machte sich frisch. Er fühlte sich abgespannt und müde. Doch war an Schlaf wie in so vielen Nächten nicht zu denken. Die Hähne krähten in halbstündlichen Abständen den Morgen ein, und die Sonne schickte ihre ersten Strahlen über den Horizont. Es war Donnerstag. Er musste ohne den philippinischen Kollegen zurechtkommen, der sich an diesem Morgen mit seiner Frau, die als Lehrerin im Norden das zweite Gehalt einbrachte, auf den weiten Weg nach Windhoek machte, um mit Beginn der Schulferien die Töchter von der Konventschule abzuholen. Er trank die Tasse Kaffee, drückte die Zigarette auf der Untertasse aus, zog sich die Sandalen über, verschloss die Eingangstür, hängte das Vorhängeschloss an der Gittertür ein und drückte den Bogen bis zum Klicklaut ins Gehäuse. Er nahm den direkten Weg zum Hospital. Sonnenstrahlen zogen durchs Laubwerk der Bäume und steckten die Ostwand des neuen Verwaltungsgebäudes in ein grelles Licht. Die Vögel in den Bäumen zwitscherten den frühmorgendlichen Wechselgesang von den Bäumen und freuten sich auf ihre "gregorianische" Art über den anbrechenden Tag. Bei den Vogelstimmen, die mitunter wunderschöne Melodien brachten, dachte Ferdinand an Maurice Ravel, der auf die Frage, ob ihn eine Beethoven-Sonate stimulieren würde, wenn er beim Komponieren war, worauf Ravel antwortete: nicht Beethoven, aber die singenden Vögel würden es tun.
Der zerfledderte Lattenzaun gegenüber den fünf hochgestelzten Caravan-Häusern löste sich mehr und mehr in seine Einzelteile auf. Da wurden die verbliebenen Latten aus den Planken herausgeschlagen und zu Brennholz in noch kleinere Stücke gebrochen. Der Drang, die Dinge dem eigentlichen Zweck zu entfremden, Zäune, Türen und anderes Gut zu entfernen, was öffentliches Eigentum war, setzte sich mit der neuen Freiheit noch ungenierter fort als vor der Unabhängigkeit. Es wurde zerhackt und zerschlagen, was man in die Hände bekam, es wurde geklaut und weggetragen, was nicht niet- und nagelfest war. Entsprechend veränderte sich das Erscheinungsbild des Dorfes in Richtung Verwahrlosung. Die zunehmende Versandung mit den immer tiefer greifenden Wüstententakeln tat ihr übriges. Auch die Verschmutzung mit Plastiktüten, Bierflaschen und leeren Coca- und Fantadosen auf den Straßen und in den Seitengräben nahm ungehindert zu. Es gab Bäume, in denen mehr Plastiktüten als Blätter an den gebrochenen Ästen hingen und vom Wind hin und her geschlagen wurden. So war es kein Wunder, dass an vielen Häusern die Fensterscheiben zerschlagen, die Vor- und Hintergärten verkommen und von einer Sandschicht überzogen waren, aus der die toten Gerippe vertrockneter Sträucher und Bananenbäume völlig unsinnig heraussteckten. Auch da nahmen herumliegende Bierflaschen und Cocadosen zu. Es ging noch nicht in die Köpfe, dass ein Dorf sauber zu halten war. Dazu kamen die durchs Dorf geführten Rinder- und Ziegenherden, die auch durch die Gärten gingen und das letzte Grün von den Büschen und jungen Bäumen frassen. Beim Abgrasen des Dorfes verhielten sie sich sportlich und sprangen über einmeterfünfzig hohe Zäune wie nichts. Da diese Herde im Dorf nächtigten, wurden die Gärten nicht nur tagsüber, sondern auch nachts heimgesucht, wenn man gerade eingeschlafen war. Bei dieser Art der Weidewirtschaft war ein kleiner lebender Garten schnell dahin. Diese Blattfresser, zu denen sich auch Esel und ein Schwein gesellten, nahmen keine Rücksicht, ganz gleich, ob die Pflanzen schon "röchelten" oder ganz erstickt waren. Diese Vierbeiner machten Tabula rasa und ließen nichts zurück. Am nächsten Morgen kannte man den "Garten" nicht wieder, als hätte es ihn nie gegeben. Und die unverschämten Ziegen knabberten noch die Enden der grünen Zweige weg, bevor man sie mit dem Stock erwischte und davonjagte.
Der Pförtner hinter der Einfahrt saß schief auf seinem Stuhl, dessen Hinterbeine tiefer im Sand steckten als die Vorderbeine. Er steckte das ganze Ei dann in den Mund, als Dr. Ferdinand an ihm vorbeiging und ihm den MorgenGruß in seiner Sprache gab. Der Pförtner konnte den Gruß mit vollem Mund nicht erwidern. Stattdessen rieb er die Eierschalenstücke mit dem rechten Schuh in den Sand. Auf dem Vorplatz, von dem der Uringeruch nie wegzudenken war, stand ein Karren mit vorgespanntem Esel, auf dem eine junge Frau saß, die sich beide Hände auf den vorgebuchteten Bauch hielt. Es war offensichtlich, dass diese Frau unter Wehen stand und alles dransetzte, ihr Baby im Kreißsaal und nicht hier auf dem scharf riechenden Vorplatz zur Welt zu bringen. Zwei Männer hoben sie vom Karren und führten sie an der Rezeption vorbei in das 'Outpatient department'. Dr. Ferdinand ging links am Esel vorbei, der sich nicht bewegte und mit runtergelassenen "Jalousien" zu schlafen schien. Die Schwestern der 'Intensiv'-Station berichteten, dass die junge Frau, die in der Nacht Operiert wurde, ruhig geschlafen habe. Die Patientin war ansprechbar und klagte über Schmerzen im Bauch. Ihre Körpertemperatur war erhöht. Dr. Ferdinand zog die Decke über ihr zurück und sah, dass sich im Drainagebeutel eine beachtliche Menge Blut angesammelt hatte. Die Bauchdecke war weich und der Verband blutig. Die Beine lagen auf zwei Kniekeilen, von denen der rechte höher als der linke war, weil es keine zwei gleichhohen gab. Beim Blutdruck lag der obere Wert noch immer tief, er war allerdings nicht ganz im "Keller". Der Puls ging schnell. Auf dem Monitor unterbrachen noch immer Extrasystolen die rhythmische Folge der Herzschläge. Die Urinausscheidung hatte leicht zugenommen, und die blutige Verfärbung des Urins war zurückgegangen. Er notierte im Verlaufsbogen, den Blutfarbstoff und die Elektrolyte im Serum zu bestimmen. Das Problem bestand weiter, dass der Patientin, die sich noch nicht aus dem Kreislaufschock erholt hatte, kein Blut oder Plasma gegeben werden konnte, weil da nichts vorrätig im Kühlschrank des Labors war. Der Patientenbus, der auch die Blut- und Plasmakonserven von der Blutbank aus Windhoek brachte, sollte erst am folgenden Tag, einem Freitag, zurückkommen, wenn alles planmässig verlief und er nicht mit einem Achs-, Rad- oder Motorschaden irgendwo auf der siebenhundertfünfzig Kilometer langen Strecke liegenblieb. Denn der Bus war bereits ein Veteran noch aus der Zeit der Apartheid, der nach der Unabhängigkeit längst durch einen neuen hätte ersetzt werden müssen.
Dr. Ferdinand sah noch nach den anderen Patienten, von denen einige auf die normalen Säle verlegt werden konnten, da sie einen stabilen Zustand erreicht hatten. Er wünschte den Patienten eine gute Besserung und den Schwestern der Frühschicht einen guten Tag. Dann ging er zu den orthopädischen Sälen, um dort nach den Patienten zu sehen. Im Kindersaal lagen wieder zwei Kinder, die eine explodierende Landmine überlebt hatten, dafür aber ein Bein bei einem elfjährigen Jungen und einen Unterarm und Fuß bei einem Mädchen von dreizehn Jahren verloren. Die herumliegenden Minen waren noch immer ein enormes Sicherheitsrisiko besonders für die Kinder, die meist aus Neugier oder beim Spielen vom Weg abwichen, den zu gehen ihnen aufgegeben war. In manchen Fällen ereigneten sich diese Verletzungen unweit vom Kraal, wenn Kinder die Ziegen zusammentrieben, um sie in die offenen Stallungen zu bringen.
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