Die nostalgische Erinnerung war so deutlich, dass Cassandra ein leiser Schmerz in die Pobacken stach. Geistesabwesend rieb sie sich den Hintern. Ihre Eltern waren damals sehr wütend gewesen. Eine ganze Weile war es der kleinen Cassandra unmöglich gewesen, an einen Stift zu kommen - ziemlich genau bis zu ihrer Einschulung, aber das wusste Cassandra nicht mehr.
Wie so oft, wurde Nostalgie zu Schmerz, und Cassandra verdrängte die alten Erinnerungen, um sich wieder ihrer Aufgabe zu widmen. Sie musste noch ein brauchbares Foto für ihren Aufsatz schießen. Sie hob den Fotoapparat und knipste zwei Fotos in schneller Folge. Leider besaß sie keine Digitalkamera, so dass sie nicht gleich vor Ort sehen konnte, ob aus den Fotos etwas wurde. Sie musste sich allein auf ihr Auge verlassen und schoss deshalb lieber noch ein paar zusätzliche Bilder von der Schule. Mindestens ein gutes musste am Ende herauskommen. Sie drehte sich zur Seite und schoss auch ein paar Bilder von Brickrow und Hillside, nur so zur Sicherheit. Als sie die Kamera zum zweiten Mal senkte, geschah es.
Was im Endeffekt genau passierte, würde sie wohl niemals erfahren, auch wenn später, als es Cassandra kaum noch interessierte, vieles klarer werden sollte.
Sie senkte den Fotoapparat und schaute sich die Landschaft an, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass sich alles veränderte. Es geschah nicht, während sie wegsah, nein, es geschah direkt vor ihren Augen. Das breite grasgrüne Band oberhalb der Brickrow School , die weite hügelige Landschaft, erstarrte in grobem Relief. Es dauerte einige Sekunden, bevor Cassandra überhaupt verstand, was sie da sah.
Die Graslandschaft wurde zuerst flüssig und dann schlagartig fest. Sie erinnerte an die groben Pinselstriche eines Malers, der zu viel Ölfarbe auf die Leinwand gelegt hatte. Der strahlend blaue Himmel über Cassandra bekam Wirbel und Wogen und erstarrte ebenfalls zu einem See aus Malerfarbe.
Die Schule wurde zu einem grauen und erhabenen Klecks inmitten von rotierendem Blattgrün und Rindenbraun. Brickrow trocknete zu einem aufgeplatzten Muster, wie ziegelroter Wüstenboden, und Hillside wurde zu einer Ansammlung gelber und beiger Quadrate, von einem quadratischen Pinsel in die Landschaft getupft.
Ungläubig öffnete Cassandra den Mund. Die eben noch strahlende Sonne war nur noch eine Spirale aus gelber Farbe.
Willkommen in der Welt der Sonnenstiche, Comtessa. Habe ich dich nicht gewarnt?
"Was... zum...?”, keuchte Cassandra. Das alles konnte doch nicht sein. Sie wusste noch nicht einmal mehr, was sie denken sollte.
Hallo, aufwachen, Comtessa. Zeit, die Sachen zu packen und ins Krankenhaus zu fahren. Wenn das kein Sonnenstich ist, dann hast du dir gerade einen Schlaganfall eingehandelt.
Aber es war kein Schlaganfall. Ein Sonnenstich war es auch nicht. Cassandra starb nicht, oder fiel, oder fühlte sich schlecht. Nichts dergleichen. Sie stand einfach da und staunte. So verrückt es auch war, aber das siebzehnjährige Mädchen namens Cassandra Moon stand in einem waschechten Gemälde und betrachtete die Pinselführung eines ihr unbekannten Künstlers.
In Anbetracht eines solchen Realitätsverlustes übernahm Cassandras Unterbewusstsein die Kontrolle über den Körper. Ihre Lungen holten tief Luft, und sie stieß ein lautes "Ach du heilige Scheeeiiiiße !" aus. Sie rief so laut sie konnte, nur um dieses hilflose Staunen aus sich herauszuschreien.
In einem panischen Augenblick fiel ihr ein, dass sie ebenfalls gemalt sein könnte. Sie hob schnell die Hände vor das Gesicht und... seufzte erleichtert. Sie war normal. Auch die Kamera und ihre Kleidung waren normal, nicht gemalt. Aber alles andere, wirklich alles , war... nun...
Cassandra kniete sich ins gemalte Gras und befühlte die Oberfläche. Es war eindeutig getrocknete Farbe. Sie kratzte daran und schaffte es sogar, eine kleine Schicht abzutragen. Unter ihren Fingernägeln sammelten sich grüne Farbsplitter.
Was ist hier los? Bin ich verrückt geworden?
Ratlos stand sie auf und schaute sich um. Auf jeder Seite des Hügels, rundherum bis zum Horizont, grüßte sie die Landschaft in bunten Farben. Für einen einzigen irrwitzigen Augenblick sah Cassandra den Wind durch die blaue Masse des Himmels wirbeln, wie einen unsichtbaren Pinsel, der durch die noch nicht ganz getrocknete Farbe gleitet und die Farbwirbel neu formt. Es hatte etwas Stop-Motion-Artiges an sich, wie dieser merkwürdige Wind den Himmel verwirbelte. Cassandra dachte, dass man in einem Knetgummi-Animationsfilm den Wind auf diese Weise darstellen würde, indem man den Knethimmel in jedem Einzelbild neu arrangierte.
Weiter unten auf dem Hügel klebten rote Klecksblumen auf dem grünen Haufen Farbe.
Die Dornensträucher waren schnell geschwungene, kreuz und quer verlaufende Striche, die aussahen, als hätte ein Kind versucht, eine piksende Kastanie zu malen.
Was mache ich jetzt? Als ein Kind der Neuzeit, gewöhnt an phantastische Filme und Bücher, war sie schwerer aus der Fassung zu bringen als zum Beispiel ein Mensch vor fünfzig Jahren, aber dennoch schrillte dumpfe Panik am Rande ihres Verstandes auf. Etwas im Fernsehen zu sehen ist nicht das gleiche, wie mitten drin zu stehen. Mit ihren siebzehn Jahren wurde Cassandra schlagartig bewusst, welche Dimension den Unterhaltungsmedien fehlte: Du musst dich jetzt entscheiden, was du als nächstes tust. Du musst dich mit dieser Situation auseinandersetzen.
Ruhig bleiben! Das wäre ein guter Anfang , einfach ruhig bleiben , dachte sie. Schließlich bist du nicht in Gefahr, oder? Schließlich laufen hier keine gemalten Löwen umher.
Aber Cassandra war sich nicht so sicher, dass hier keine Gefahren lauerten. Wenn sie ehrlich war, spürte sie eine bedrohliche Präsenz. Mehr als nur ihre Angst, angesichts dieser Situation. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie sogar fühlen aus welcher Richtung diese Bedrohung kam. Schnell sah sie zur Schule.
Irgendetwas ist dort.
Der eckige graue Klecks stand in der Landschaft wie ein Kiesel im Gras. Nichts rührte sich dort, aber Cassandra spürte, dass etwas dort lauerte. Sie strengte die Augen an, in dem Versuch zu erkennen, ob jemand sie aus diesen verwischten, nur leicht angedeuteten, Fenstern heraus beobachtete. Kleine schwarzweiße Schlieren bildeten die Fensterrahmen, aber so sehr Cassandra auch stierte, sie konnte niemanden sehen.
Nun, bei dieser groben Auflösung kannst du lange glotzen, Comtessa. Du würdest niemanden sehen, selbst wenn er dir aus einem der Fenster zuwinkt.
Das stimmte. Die Farbe war einfach zu dick aufgetragen. Keine Chance, Feinheiten zu erkennen.
Dann geh´ näher ran.
Cassandra lachte auf. Klar doch. Sonst noch was?
So sehr diese wahnwitzige Situation sie faszinierte, so überwog doch die Angst und der gesunde Menschenverstand. Sie würde auf keinen Fall zur Schule gehen. Ihr war vollkommen bewusst, dass sie in diesem Moment in einem riesigen Gemälde stand, und wie auch immer das möglich sein konnte, war sich Cassandra doch sicher, dass in der Welt der Kunst alles möglich war. Vielleicht lauerten dort unten sogar Monster. Zwar gemalt, aber dennoch gefährlich. Diese Vorstellung war so schlüssig, dass sich Cassandra nicht im Geringsten blöd vorkam, sie in Erwägung zu ziehen.
Nein, Süße, wir bleiben hier oben und betrachten alles schön aus der Ferne. Vom Hügel aus haben wir einen guten Überblick über alles, was sich nähert.
Nur was sollte sie tun, wenn die Welt so blieb? Wenn sie nicht mehr in den ursprünglichen Zustand zurücksprang? Cassandra konnte nicht ewig auf dem Hügel bleiben.
Oh Gott, was wenn die Nacht hereinbricht?
Dann malst du dir ein Feuer, haha.
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