Aber so stimmt das nicht ganz, Cass. Oder?
Nein, es stimmte nicht ganz.
Letztes Jahr hast du einen Aufsatz über dieses Gebäude geschrieben. In Geschichte. Bei Mister Welling.
Ja, sie hatte einen Aufsatz über den historischen Hintergrund der Schule geschrieben. Die Grundsteinlegung, den Bau, die Einweihung und die damit zusammenhängenden geschichtlichen Ereignisse. Sie hatte gründlich recherchiert, im Grundbuch, im Stadtarchiv von Brickrow und bei der lokalen Zeitung. Und dabei hatte sie mehr kribbelnde Mysterien gefunden, als sie jemals zu hoffen gewagt hätte.
Sie fand natürlich keine Leichen, keine Skandale und auch keine vertuschten Geheimnisse, aber das war auch nicht nötig. Für ein damals siebzehnjähriges Mädchen, das nichts lieber mochte als die seltenen Gelegenheiten, aus der Gegenwart und aus ihrem trostlosen Leben zu fliehen, und in den magisch wabernden Tunnel der Zeit zu blicken... für so ein Mädchen reichte schon ein kleiner Funke des Okkulten, um seinen Entdeckergeist zu wecken.
Doch auf ihrer Suche nach Hintergrundmaterial für ihren Aufsatz, stieß Cassandra Moon auf mehr als nur einen Funken. Sie stieß auf ein ganzes Inferno aus Geheimnissen. Sie stieg hinauf und stieß auf ein Rätsel.
1
Es war im Sommer letzten Jahres gewesen, kurz vor den Sommerferien, dass Mister Welling sagte, er erwarte von jedem seiner Schüler eine Hausarbeit, die während der Ferien geschrieben werden sollte, und die er in der ersten Schulwoche nach den Ferien benoten würde. Das Thema sollte ein geschichtliches sein und nicht mehr als fünfundzwanzig Seiten umfassen. Abgesehen davon gab es bei der Wahl des Themas keine Einschränkungen. Man sollte nur nicht soweit abschweifen, dass der Bezug zum Unterricht verlorenginge.
Mister Welling entließ seine Schüler aus dem Unterricht und hinein in die quälende Aufgabe, ein passendes Thema zu finden, das man leicht in der letzten Ferienwoche abarbeiten konnte, ohne sich den Spaß an den Ferien zu nehmen. Dabei war Cassandra eine der Wenigen gewesen, die sofort gewusst hatten, worüber sie schreiben würden.
Später lasen viele Jungs ihre Aufsätze über die Historie ihres liebsten Fußballvereins vor und kassierten, abgesehen von einem Kopfschütteln von Mister Welling, eine Menge D- und E-Noten. Am Thema vorbei stand unter diesen Noten.
Und auch einige weibliche Klassenkameraden brachten Mister Welling dazu, sich an den Kopf zu greifen. Die Geschichte (meiner Lieblingsfernsehserie) im sozial-historischen Kontext war nur ein Thema, das, mit Ausnahme des Wortes "Geschichte", keinen Bezug zum Unterricht hatte, egal wie sehr sich Mister Welling Mühe gab, wohlwollend zu urteilen.
Sehr zu Cassandras Leidwesen war Die Geschichte der Brickrow Grammar School ein weiteres dieser Themen gewesen. Zwar traf sie den Kern der Aufgabe genauer als ihre unglückseligen Klassenkameraden, aber es hatte ganz offenbar nicht zu Mister Wellings Zufriedenheit gereicht. Er hatte Folgendes unter den Aufsatz geschrieben: Ich verstehe deinen Ansatz, aber für eine A-Note hätte ich mir mehr geschichtlichen Hintergrund gewünscht. Welche politischen und sozialen Zustände herrschten zu dieser Zeit? Und wer war dieser Künstler? Unter dieser kryptischen Frage stand ein rotes C.
Cassandra hätte diese Frage gerne in ihrem Aufsatz beantwortet, aber die Wahrheit war, dass sie die Antwort nicht hatte herausfinden können. Wie so viele andere Fragen, würde auch diese erst sehr viel später beantwortet werden. Und nicht von Cassandra.
Zu dem Zeitpunkt, als sie das rote C vor Augen hatte, forschte sie in ihrem Inneren nach einer Emotion. Sie konnte sich bei bestem Willen nicht daran erinnern, jemals eine so schlechte schriftliche Note bekommen zu haben, und fragte sich, ob sie jetzt wohl ausrasten würde. Hatte Mister Welling denn nicht gefühlt wie wichtig ihr dieser Aufsatz war? Wie konnte er sie dermaßen schlecht benoten, wenn noch nicht einmal ihr Herzblut auf den Seiten getrocknet war? Wieso kassierte sie A-Noten für Aufsätze, die sie nicht im Mindesten berührten, aber ein C für ihr Lebenswerk?
Cassandra strengte sich an, eine bestimmte Emotion aus der ganzen Verwirrung herauszukristallisieren, und das, was am Ende herauskam war...
Gleichgültigkeit.
Ist das alles? Mehr fühlst du nicht?
Nein, da war noch etwas. Ein Gefühl, das nicht mit der Note zusammenhing, sondern mit der Arbeit am Aufsatz. Ein lauerndes Gefühl. Bedrohlich .
Die Wahrheit war, dass es Cassandra nicht im Mindesten interessierte, was Mister Welling von ihrem Aufsatz hielt, weil sie zu diesem Zeitpunkt bereits andere Sorgen hatte. Cassandra Moon hatte Angst. Nicht um ihr Leben oder ihre Seele (beides würde später kommen), sondern um die Realität an sich. Um die Welt wie sie sie kannte.
In Wahrheit begann es viel früher, aber der Tag, an dem Cassandra den großen Hügel hinaufstieg, um ein Luftfoto der Schule zu schießen, ist ein guter Einstieg in diese Geschichte.
2
An dem Tag ihrer “Klettertour” den großen Hügel hinauf, befand sich auch ihr emotionaler Kern auf einer Klettertour auf den sonnigen Hügel der Glückseligkeit. Das bedeutet, dass wir das Mädchen namens Cassandra Moon von Neuem kennenlernen müssen.
Mit der Minolta ihres Vaters bewaffnet kletterte Cassandra durch dichtes Gestrüpp auf den Hügel, der den einfallslosen Namen Brickrow Hill trug. Von den Schülern einfach Prick Hill genannt. Die Sonne brannte so heiß herab, dass Cassandra sich Sorgen um den Film in der Kamera machte.
Fliegen und Mücken umschwärmten sie, und dornige Büsche hinderten sie am Vorankommen, aber Cassandra war das alles egal. Nein, nicht egal. Ganz im Gegenteil genoss sie diese Klettertour in vollen Zügen. Sie schwitzte, schlug nach Insekten und zog an Dornenranken, die sich an ihr verhakt hatten, aber das alles gehörte nun mal dazu, zum großen Abenteuer. Es wäre viel zu langweilig gewesen, einfach auf diesen Hügel zu steigen, ein Foto zu schießen und wieder zu gehen. Darum brachte sie lieber eine gewisse Würze mit ein, indem sie sich vorstellte, sie kämpfte sich durch undurchdringlichen Dschungel, vorbei an Treibsand und Teergruben, immer ihrem geheimen und (wie sich herausstellen würde) nur halb imaginären Schatz entgegen. In ihrer Fantasie verfluchte sie nur den Umstand, dass sie keine Machete hatte, um dieses kratzende Gestrüpp kurz und klein zu schlagen.
Sie dachte an ihren Glücksbringer, den sie hätte bei sich tragen sollen, aber der lag zu Hause in einer Schublade zwischen ihrer Unterwäsche. Cassandra hatte in ihrer ungewohnten Sommerkleidung nicht genug Taschen gehabt, den Glücksbringer - ein nicht gerade kleines Klappmesser - mitzunehmen. In ihrem leichten braunen Rock und der ärmellosen Weste hätte sie höchstens eine Streichholzschachtel unterbringen können, und das hatte sie dazu verleitet, ausnahmsweise von ihrer Gewohnheit, das Messer bei sich zu führen, abzuweichen. Aber jetzt, in diesem Augenblick, schwor sie sich, ihr Versprechen kein weiteres Mal zu brechen.
Verdammtes Gestrüpp!
Völlig zerkratzt und mit baumelndem Fotoapparat hielt Cassandra an und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seit etwa vier Jahren trug sie Schweißbänder an beiden Handgelenken, wenn sie Kleidung mit kurzen Ärmeln anhatte. Niemand außer ihr wusste, weshalb sie das tat, und über die Gründe dafür sprach sie nicht.
Ein schwacher Wind ließ den Schweiß auf ihrer Haut trocknen, aber er verschaffte ihr keine rechte Kühlung. Dieses Wetter war so vollkommen untypisch für den Süden Englands, dass in Cassandras Kopf bereits das Schreckgespenst der Klimakatastrophe umherschwirrte. Wie konnte der Wetterbericht nur so falsch liegen? Er hatte sechsundzwanzig Grad vorhergesagt.
Читать дальше