Leonhard quälte sich gerade mit dem Beitrag eines Bürgermeisters aus dem Umland ab, der unbedingt noch heute ins Blatt gehoben werden sollte, sich aber faktisch in nichts vom amtlichen Protokoll der letzten Gemeinderatssitzung unterschied und im Wesentlichen die diversen Klassifikationsmerkmale für die Kanalisationsbeiträge im neuen Gewerbegebiet aufzählte. Da kam Paul, schelmisch braune Augen blitzten unter einem roten Wuschelkopf, eine Hand und ein Manuskript streckten sich ihm entgegen: der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Paul Wiesensee war noch Student damals und machte sich rasch unentbehrlich, ein freier Mitarbeiter, der auffiel mit seiner flotten Schreibe, sein Zeilenhonorar mehr als wert war und immer Zeit hatte, wenn Leonhard ihn bat, irgendeinen Termin wahrzunehmen, selbst wenn es ganz schnell gehen musste.
Sie waren in der Redaktion ein kleines Team und machten zusammen ein munteres Blatt, eine echte Crew, immer bereit, die konservative Konkurrenz zu ärgern und die Themen gegen den Strich zu bürsten. Berufliches und Persönliches gingen damals noch nicht so auseinander, wie es heute üblich ist und professionelle Distanz es zu Recht verlangt. Damals war für sie auch die Redaktion ein Zuhause, und zuhause war man nicht weniger beieinander als in der Redaktion.
So wuchs ihre Freundschaft ins Persönliche hinein und hielt, obwohl sich beruflich ihre Wege trennten. Bald waren sie enge Freunde. Beste Freunde. Intime Freunde. Ungewöhnliche Freunde auch, wie ihr Umfeld befand, weil sie in manchen Zeiten alles teilten. Selbst Geheimnisse. Selbst Frauen. Das mit den Frauen änderte sich später, als Paul Wiesensee seine große Liebe fand und mit ihr eine Familie gründete. Es war auch dann noch anders, als Pauls geliebte Frau schon nach wenigen Jahren starb und sie seine Trauer teilten. Aber es gab stets auch reichlich anderes, das sie miteinander teilen konnten.
Am Anfang waren es vielleicht gerade ihre Differenzen, die sie interessant machten füreinander und die sie anzogen gegenseitig. Leonhard, Bildungsbürger schon von Haus aus, zugleich aber kaum aus Süddeutschland herausgekommen und unterschwellig enger in sein familiäres Vermächtnis von Pietismus und Leistungsauftrag verhakt als ihm lieb war, Paul dagegen Arbeiterkind, der sich Bildung gegen Widerstand aus der eigenen Familie erst erkämpfen musste und sich mühsam genug aus seinem Milieu herausarbeitete in die Weite der Welt, in die Freiheit des Lebens, die es zu entdecken und auszukosten galt. Paul war es, der den noch ziemlich provinziellen Leonhard zu gemeinsamen Reisen nach Italien animierte und ihn entführte in mediterranes Licht und Leben. Das Arbeiterkind musste kommen, um dem Bürgerkind das Fliegen beizubringen, dem Nesthocker, der bis dahin vor allem in seinem Kopf auf Reisen war. Paul lehrte Leonhard, seine Arme auszubreiten und auszufliegen, etwas ängstlich zunächst, aber bald voller Lust und Begeisterung, über die Alpen und bald um die ganze Welt.
Seit diesen Reisen nach Italien sind sie italophil, wie fast alle Deutschen ihrer Generation. Seither reden sie sich bei Gelegenheit, also oft, freundschaftlich als Leonardo an und als Paolo, beschließen ihren meist nächtlichen E-Mail-Austausch mit il tuo amico Leonardo und il tuo amico Paolo, itaL und itaP abgekürzt. Ab und zu macht Paul aus seinem Freund Leonhard Ross auch einen Rosso, oder wegen seines ehemals ins Rötliche schimmernden, inzwischen grauweißen Bartes sogar einen Barbarossa. Dann kontert Leonhard mit einem leicht theatralischen, aber liebevollen Paolissimo.
Ihr Verhältnis ist keineswegs einfach, ja es konnte manchmal auch schwierig und kompliziert sein, setzte einmal sogar ganz aus über mehrere Jahre, und es war lange unklar, ob es je wieder einsetzen würde eines Tages. Vielleicht weil sie ihre Unterschiedlichkeiten immer nur genießen, von ihnen immer nur profitieren wollten und so manches ausgespart blieb, was sie sich hätten zumuten sollen. Vielleicht auch, weil in ihre Freundschaft unerfüllbare Erwartungen eingebaut waren, von denen sie selbst nichts wussten. Am Ende aber, mit der Hilfe einer alten Freundin, fanden sie wieder zueinander, wurden sich wieder gut, ja entdeckten sich neu, und verjüngten so ihre Verbundenheit, während sie selbst älter wurden und in die Jahre kamen.
*
„Hör mir doch erstmal zu“, sagt Paul. „Ich habe heute einen anonymen Brief bekommen, von einer Öko-Gruppe mit ziemlich vagen Hinweisen und Anschuldigungen, ganz schön wirr und diffus.“
„Um was geht´s denn?“, fragt Leonhard und fasst gleich journalistisch nach: „Vielleicht ist es ja eine Geschichte.“
„Ja, vielleicht. Aber es ist komisch, wer schreibt heute noch Briefe. Und dann lag der bei mir zuhause im Briefkasten, nicht etwa in der Redaktion. Die nennen sich ‚Ökologische Befreiungsaktion‘, abgekürzt ‚Öbefa‘, und sie schreiben von irgendwelchen illegalen Lieferungen, Schiebereien, falschen Papieren und so was.“
„Klingt wirklich wirr. Vielleicht sind es Spinner, vielleicht auch nicht. Anonyme Briefe sind übrigens heute mühsamer zu identifizieren als IP-Nummern und E-Mails. Der Name, was meinst du, ist der vielleicht Programm? ‚Öbefa‘ klingt ein wenig wie ‚Antifa‘, nur ökomäßig. Was hast du jetzt vor?“
Die Gruppe habe ihn um Hilfe gebeten, erzählt Paul. Das verwundere ihn einigermaßen, weil er mit Öko-Themen bislang kaum zu tun gehabt habe. In dem Brief stehe aber, und das sei ihm jetzt eher peinlich, dass die Gruppe ihn als kritischen, unabhängigen und mutigen Lokalredakteur anspreche, der offenbar in den lokalen Filz nicht so verstrickt sei wie die übrige Journaille. Und deshalb fordere man ihn auf, seinen journalistischen Pflichten nachzukommen und ihre Hinweise aufzugreifen und ans Tageslicht zu bringen. Wenn er helfe, das übliche Schweigekartell zu brechen, könne er auf ihren bisherigen Recherchen aufbauen und mit ihrer Unterstützung rechnen. Aus verständlichen Gründen müsse die Gruppe anonym bleiben. Die Macht dieser Verbrecher und ihrer Kartelle sei groß und ihr Arm sei lang. Aber wenn er bereit sei, den Skandal aufzudecken, werde er weitere Informationen erhalten. Das, sagt Paul, sei im Großen und Ganzen, was in dem Schreiben stehe. Sonst nichts Konkretes, nichts Handfestes.
„Und?“, neckt Leonhard, „gedenkst du deinem Image als wahrer Wahrer der Wahrheit gerecht zu werden?“
Paul lacht. Aber er gesteht auch, dass ihm die Komplimente schon schmeicheln, die in der Aufforderung der Gruppe stecken. Zugleich kommt ihm das Ganze ziemlich spanisch vor.
„Und vor allem“, sagt Paul, „ich weiß gar nicht, woher ich noch Zeit für irgendwelche aufwändige Recherchen nehmen soll, um der Sache nachzugehen. Die wollen doch offensichtlich, dass ich mich nicht in der Redaktion darum kümmere, jedenfalls nicht offiziell, sondern diskret nebenher, also nach Feierabend. Und wie es bei uns inzwischen jeden Tag zugeht, habe ich dir schon oft genug vorgejammert.“
Leonhard nickt. Er hat sich schon mehr als einmal anhören müssen, wie abgespannt sein Freund von einem redaktionellen Alltag ist, der sich seit Jahren immer stressiger und unerfreulicher gestaltet, weil kaum mehr Zeit bleibt, Themen in Ruhe zu recherchieren, sorgfältig zu schreiben und hochwertig zu gestalten, sondern journalistisches Fast Food geliefert werden muss, schnell, schnell, möglichst mehrfach multimedial und crossmedial verwertbar, im Blatt, auf den Online-Kanälen, in den Apps und im lokalen TV. Jetzt wird ihm klar, was es auf sich hat mit dem Attentat.
„Meinst du vielleicht, ich könnte dir bei dieser Geschichte helfen, wir könnten zusammen … du willst mich gewissermaßen hinzuziehen oder vielmehr hineinziehen in diese Sache?“
„Du hast es erfasst“, sagt Paul.
Äußerlich ziert sich Leonhard noch: „Dazu brauchst du mich doch nicht, das schaffst du doch gut alleine.“
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