Ein fast euphorisches Glücksgefühl überschwemmt ihn, das er dankbar empfängt und festhält für einen Moment. Und eine kurze Sehnsucht steigt in ihm auf, mit seiner Freundin verheiratet zu sein. Weil er sie so lieben kann wie noch keine Frau zuvor, in einer Leichtigkeit, die er nicht von sich kannte vorher und erst spät in seinem Leben zu entdecken begann. In Momenten wie diesem schmerzt es ihn zu wissen, dass er nicht zu Heirat taugt, dass er ein falscher Fünfziger ist als Ehemann, weil er nicht treu sein kann, sexuell. In solchen Momenten, wenn die Liebe zu seiner Freundin ihn so heftig überkommt, könnte er, sentimental wie er ist, weinen vor Glück und aus Schmerz. Und er wäre gerne monogam in diesem Augenblick. Aber so ist er nicht veranlagt, die meisten Männer sind es nicht. Und verlogen will er nicht sein, das muss nicht mehr sein in seinem Alter.
Er wirkt auf Frauen, immer noch. Mit seiner silbernen Künstlermähne, überhaupt mit seinem ganzen Äußeren, schlank, sportlich, groß, ein stattlicher, trotz seiner 68 Jahre energiegeladener Mann. Schon zu seinen Zeiten als Chefredakteur beeindruckte seine stets gediegene Erscheinung, elegant aber leger sitzende Maßanzüge, aktuelle Krawatten, die einen farbigen Akzent setzten. Boss, das war auch sein Label, Nino Cerruti sein Duft. Wenn er den Raum betrat, war ihm Aufmerksamkeit sicher. Inzwischen fühlt er sich tausendmal wohler in legerem Freizeitlook, freut sich an den Naturfarben seiner bequemen Leinen-Hosen, schlüpft in lockere Polohemden, zieht sich schicke, lässige Lederjacken über. Mit der unvermeidlichen Sonnenbrille, die seine Augen stets verdeckt, könnte er einen alternden Playboy geben. Aber er trägt die dunklen Gläser nicht zur Schau, nicht als modischen Gag, sondern auf Anordnung seines Arztes, zum Schutz seiner stets entzündeten Augen.
Ohnehin wirkt er nie wie ein flotter Lebemann. Davor bewahren ihn das leicht besorgte Mienenspiel, das seinen Gesichtszügen Ernsthaftigkeit verleiht, sein zugewandtes Wesen gegenüber jedem Gegenüber, die intellektuelle Nachdenklichkeit, die ihm auf die Stirn geschrieben ist, auch wenn unzählige kleine Lachfältchen um Augen und Mund eine angeborene Frohnatur offenbaren. Vielleicht hätte sein angenehm ebenmäßiges Gesicht ein wenig langweilig gewirkt, wäre es nicht in interessante Falten gelegt. Von den Spuren seines Lebens. Die Frauen haben ihn immer geliebt. Und er sie.
Irgendwo klingelt es, er will es nicht hören. Nicht jetzt. Er lächelt, weil ihm plötzlich die heftigen Diskussionen einfallen, als sie noch Schüler auf dem Gymnasium waren und darüber stritten, ob das geht, ob das überhaupt erlaubt ist, Sex ohne Liebe. Und er sich immer etwas geschämt hat, weil es ihm schon damals so ging, wenn er ehrlich war. Es gab einfach Mädchen, auf die er scharf war, die sein Glied versteiften, selbst wenn er von ihnen sonst nichts wusste. An sie dachte er, wenn er onanierte, unter der Bettdecke, auf dem Klo oder im Schuppen auf dem Dachboden, gemeinsam mit seinen Freunden aus dem Dorf. Und dann gab es die andere, immer nur die eine, für die er schwärmte und die auf keinen Fall vorkommen durfte in seinen Phantasien, die er verbannte aus seinem Kopfkino, wenn er sich anfasste, um sie auf keinen Fall zu beschmutzen, wie die blonde Katharina aus dem Schulchor, Tochter des Notars, um deren Haus er manchmal radelte mit Herzklopfen.
Wieder katapultiert ihn das Klingeln in die Gegenwart. Vielleicht ist es das Telefon in seiner Wohnung, vielleicht sind es aber auch Friedel oder Rolli. Es vibriert in seiner Hosentasche, aber nicht seiner Gedanken an Karla oder Katharina wegen. Er kramt sein Smartphone heraus.
„Ich bin’s, Paul.“
„He, caro amico, hast du gerade eben auf dem Festnetz angerufen?“ Leonhard hätte seinen Freund jetzt gerne bei sich gehabt und umarmt.
„Nein, ich war das jedenfalls nicht“, antwortet Paul belustigt, weil diese Rückfrage fast immer kommt, wenn er bei Leonhard anruft. „Kann es vielleicht sein, dass dich dein Liebespärchen schon wieder foppt?“
Leonhard lacht. „Ja, sie können es einfach nicht lassen.“
Elfriede, von ihm zärtlich Friedel gerufen und Rolli, sind eine Hinterlassenschaft seiner Mutter. Sie waren ihre letzten Gefährten und sie hatte sich glänzend mit ihnen unterhalten bis zu ihrem Tode. Die Graupapageien mit ihrem silbern meliertem Gefieder, im Farbton Leonhards Künstlermähne durchaus ähnlich, und dem strahlend roten Schwanz leben seither mit ihm, in einer Wohngemeinschaft der etwas anderen Art, so artgerecht, wie es eben möglich ist bei Tieren in Gefangenschaft. Ihr Zuhause, eine großzügige Voliere, füllt ein ehemaliges Gästezimmer fast zur Hälfte. Aber noch lieber fliegen sie umher in seiner ganzen Wohnung und jetzt ist es Leonhard, zu dessen Unterhaltung sie gerne beitragen, wenn sie nicht gerade untereinander kommunizieren, eine durchaus respektable Gegenleistung für ihren Unterhalt.
Schlau und sprachfertig haben sie sich neben der Fähigkeit, Farben zu erkennen und zu benennen, auf die perfekte Imitation von Klingeltönen spezialisiert. Und so sind sie es, die es des Öfteren klingeln lassen in seiner Wohnung, als rufe ihn die ganze Welt auf einmal an. Leonhard versuchte zunächst, sich durch das tägliche Umstellen auf immer neue Klingeltöne einen gewissen Vorsprung vor ihrer Lernfähigkeit zu verschaffen. Aber er musste erkennen, dass er damit das Repertoire von Elfriede und Rolli nur permanent erweiterte. Irgendwann war er mit den mehr oder weniger erfreulichen Melodien seines Smartphones von Andromeda und Basic Bell bis Ursa minor und Wine bottle ziemlich durch, mit dem Effekt, dass sowohl er wie seine beiden Vögel das ganze Programm auswendig kannten. Inzwischen hat er sein Gerät auf Stumm geschaltet und versucht, seine Anrufe allein an der Vibration zu erkennen. Dafür gönnt er sich die Lautsprecherfunktion, wenn er telefoniert. Dann hört er leichter und das Gerät drückt ihn nicht so am Ohr. Allerdings hören auch Elfriede und Rolli stets zu und geben ihre Kommentare ab.
„Was treibst du gerade?“, fragt er seinen Freund, der seine etwas speziellen Lebensverhältnisse ja kennt.
„Bin gerade erst nach Hause gekommen, koch mir was und bügle nebenher meine Hemden“, sagt Paul. „Aber jetzt ist es leider eingebrannt“.
„Ins Essen oder in die Hemden, oder in beides?“, spöttelt Leonhard. „Willst du dir nicht endlich jemand gönnen, der sich um deine Wäsche kümmert und dir vielleicht sogar beim Putzen hilft?“
„Warum sollte ich. Das Einzige, was ich wirklich brauchen könnte, ist eine Sockensortiermaschine, eine, die sucht und sortiert. Und du, was machst du so?“
„Ich stehe auf meinem Balkon, hab ein Glas Black Bush bei mir und meinen See vor mir, gucke in die Nacht hinaus … Es geht mir wunderbar.“
„Nicht mehr lange, mein Lieber. Ich hab ein Attentat auf dich vor.“
„Mein lieber Paolo, mir ist gerade überhaupt nicht nach Attentat“, entgegnet Leonhard seinem Freund Paul wahrheitswidrig.
„Attatat-tat-tat“, echoen seine Papagaien im Hintergrund.
*
Ihre Bedürfnisse nach Ruhe oder Aufregung liegen im Augenblick nicht unbedingt auf einer Linie. Berufsbedingt. Paul Wiesensee und Leonhard Ross sind altgediente Journalisten. Aber ihre Lebenssituation ist sehr verschieden. Paul, stets einfacher Lokalredakteur geblieben und in seiner südwestdeutschen Kurstadt immer noch beruflich gefordert, sehnt seinen letzten Arbeitstag herbei. Leonhard hingegen, der journalistisch eine Blitzkarriere als Blattmacher und Chefredakteur hinlegte, kommt selbst im Ruhestand nicht ohne Arbeit aus. Zumindest nicht ganz.
Beide könnten in ihren äußeren wie in ihren inneren Eigenschaften unterschiedlicher nicht sein und sind einander doch vertraut wie ein altes Ehepaar. Das bleibt mit den Jahren unter Freunden nicht aus, wenn man sich so lange kennt, fast ein ganzes Leben lang, seit der Zeit schon, als Paul in der kleinen süddeutschen Stadtredaktion auftauchte, um Dr. Leonhard Ross, dem neuen dynamischen Lokalchef, seine Talente anzubieten.
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