Den Plan, als Ersatz einen toten Hund und, damit das Gewicht stimmte, neunzig Kilogramm Muschelkalksteine im Sarg zu verkeilen, hatte Charles gemeinsam mit dem Père in der Gott geweihten Sakristei von Saint Cornély ausgeheckt. Charles hatte sofort nach dem Giftattentat im „La Mer“ nachgedacht und war zu Folgerungen gelangt. Das konnte er gut, scharf und präzise analysieren, daraus nüchtern die Konsequenzen ziehen und dann schnell entschlossen handeln, indem er die erforderlichen Dinge einfädelte. Möglichst ohne selbst in Erscheinung zu treten. Es war höchste Zeit, aus seinem alten Leben zu verschwinden. Und so hatten er und der Père sich schon am nächsten Tag zu einer dringlichen Beichte mit sofortigem Ablasshandel in der Sakristei des Gotteshauses verabredet, um unter dem Kreuz des Herrn seine irdische Himmelfahrt auf den rechten Weg zu bringen.
Es war nicht das erste Mal, dass man hier oder andernorts diskret, kreativ und ergebnisorientiert zusammenkam. Beide, er und der Père, hatten sich schnell in gegenseitigem Verständnis und tatkräftigem Beistand zusammengefunden, der Parvenü und das Schlangengesicht, als Neuankömmlinge und Brüder im Geiste, die fast zu gleicher Zeit in dieser ebenso herrlichen wie eigensinnigen Gegend Frankreichs begannen, sich um Gewinn an Land, Leib und Seele zu kümmern. Charles und der Père hatten nicht bloß beim Rotwein den gleichen Geschmack.
Bei der Fleischeslust allerdings unterschieden sich ihre Vorlieben. Und da Charles um die speziellen Neigungen seines geistlichen Partners wusste, verhalf er ihm über seine Verbindungen gelegentlich zu ebenso diskreter wie professioneller Erleichterung, allerdings nicht ohne sie ebenso diskret und professionell zu dokumentieren. Indem er so dazu beitrug, dass der Père die Jugendlichen seiner Gemeinde und die vier Messdiener in Ruhe ließ, tat er etwas Gutes. Und hatte den Père zugleich in der Hand. Wie manch andere. Nicht nur in Carnac.
Auf vielleicht 900 Millionen, vielleicht eine Milliarde Euro hatte Charles Dupont sein Vermögen bis dahin angehäuft. Schätzungsweise. So ganz genau wusste er selbst nicht, was es gerade wert war. Jetzt, da es Zeit geworden war, schleunigst den amtlichen Tod zu suchen, nahm seine Gattin Gisèlle diese endgültige Abwendung mit einem erstaunlichen Gleichmut. Und mit Zins und Zinseszinsen. Er schaute von der Empore auf sie hinab und verscheuchte einen sentimentalen Anflug, der ihn aus fernen Zeiten anwehte, als sie sich gegenseitig noch ineinander hineinwühlten, emotional wie körperlich, und nicht genug bekommen konnten voneinander. Sie war ihm immer noch so vertraut wie kein anderer Mensch. Aber zuletzt hatte sie doch nur noch ein gemeinsamer, als Basis einer Ehe freilich nur beschränkt tragfähiger Erfahrungshintergrund verbunden, der sich im Wesentlichen aus dem erstaunlich offenen Meinungsaustausch über ihre wechselnden außerehelichen Affären speiste. Und aus intimer gegenseitiger Kenntnis ganz anderer Aspekte ihrer Lebensführung, die besser im Dunkeln blieben.
Sie waren Mitwisser voneinander geworden. Und dies hielt sie, ganz kühl kalkuliert, gegenseitig in Schach. Ein klassisches Patt. Je seltener sie bei ihm Befriedigung suchte, umso mehr erwartete sie allerdings ihre Befriedung. Der aus Charles Sicht großzügige Ehevertrag sah vor, ihr trotz vorsorglich getrennter Vermögen im Falle seines Ablebens die glatte Summe von 100 Millionen zukommen zu lassen, gleichsam als Trost für ihr auch künftig keineswegs trostloses Witwenleben und zur Gewährleistung ihrer Diskretion für alle Zeiten. Mit seinem nicht ganz unerheblichen Vermögensrest wollte Charles Dupont endlich ein lustvolles, ganz und gar unbeschwertes, ja von allen Altlasten befreites Dasein beginnen und die Rendite seines riskanten Lebenswerks genießen. Auf der Karibikinsel Saint Martin. Natürlich in neuer Identität.
Und natürlich mit Chantal. Der Gedanke an seine Geliebte erfrischte ihn. Selbst hier in der Kirche. Bei seinem eigenen Begräbnis. Und er spürte, als er an sie dachte, eine prickelnd pulsierende Aufladung, ganz besonders an bestimmten Stellen. Ganz körperlich. Er schloss die Augen und sah sie vor sich. Mit ihren zärtlichen Händen, an deren Fingerspitzen die zartrot lackierten Nägel zu sitzen schienen wie Knospen im Frühling.
Sie hatte ihn erlöst aus seiner zwanghaften Sexsucht, den einander immer schneller folgenden Attacken und gierigeren Schüben, die er in professionell organisierten Orgien immer vulgärer hatte entladen müssen, ohne je wirklich Befriedigung zu finden oder gar Frieden. Bestenfalls ließen sich diese Sex-Partys, bei denen sich männliche Crème de la Crème aus Wirtschaft, Politik, Finanz- und Unterwelt in feinsten Hotels mit bezahlten Traumfrauen vergnügte und dabei ihre ureigenste Creme verspritzte, im Nachhinein für den einen oder anderen Deal benutzen, bei Politikern auch gerne verbunden mit einer diskreten Erpressung oder, im Falle mangelnder Kooperationsbereitschaft, mit einer unerquicklichen Indiskretion.
Chantal hingegen nahm Dupont ganz unkompliziert, einfach wie er war, trotz seines deformierten Beines und trotz seiner Deformationen nichtkörperlicher Natur, nahm ihn in sich auf, ließ ihn ein in pulsierende Öffnungen und feuchte Tiefen, glitt mit ihm, ohne ihn zu überfordern, durch sinnlich wohlige Wogen lustvoller Intimität, ohne dass er ihr irgendetwas beweisen musste, ohne dass er sich selbst irgendetwas beweisen musste.
Mit Chantal fühlte er sich unbeschwert, wie befreit, als hätte sie eine Zwangsjacke gelöst, die sein bisheriges Leben um ihn gelegt hatte. Ihre jugendfrisch unbekümmerte Fröhlichkeit ergoss sich über ihn wie ein warmer Sommerregen. Dieses große Mädchen mit seiner schonungslos frechen Offenheit pustete seinen Machismo so einfach und zwanglos weg wie Staub von einem Möbelstück. Mit ihr fühlte sich sein Verschwinden nicht an wie eine Flucht. Sondern wie eine Existenzgründung.
Einstweilen aber schaute er auf seinen Sarg hinunter. Er nahm sich zusammen, setzte sich ein wenig aufrecht und unterdrückte die spürbare Erregung, die der Gedanke an Chantal zwischen seinen Schenkeln hatte aufkommen lassen, obwohl weder der Moment noch das sakrale Ambiente dafür den passenden Rahmen bot. Ein wenig ärgerte ihn der Zeitdruck, unter dem er seinen Tod so eilig hatte organisieren müssen. Denn die Notwendigkeit, aus seinem alten Dasein zu verschwinden und ein neues Leben zu beginnen, war nicht über Nacht auf ihn gekommen. Schon eher in Gestalt dieser vergifteten Dorade, die ihm aufgetischt worden war. So ehrlich zu sich selbst war Charles, einzugestehen, dass ihn nicht nur die aphrodisierenden Lebenselixiere Chantals hinüberzogen zu seiner neuen Existenz. Er wusste aus seinen Quellen, dass sich die Pariser Staatsanwaltschaft schon eine ganze Weile mit seinen keineswegs durchgängig gesetzeskonformen Geschäften beschäftigte. Und es war im Zuge dieser Ermittlungen nicht ausgeschlossen, dass sie ihm schon dicht auf den Fersen war, ja, dass jeden Augenblick seine Verhaftung drohte.
Das war aber nur die eine Seite seiner akuten Probleme. Die andere hatte mit den existenziell unangenehmen, nachgerade lebensgefährlichen Entwicklungen in dem kriminellen Segment zu tun, in dem er seit vielen Jahren europaweit tätig war. Mittlerweile schlugen in dieser Branche ständig neue Player auf, neue Akteure, die noch skrupelloser und brutaler agierten als er selbst. Die rasante Globalisierung seit Anfang der 90er Jahre hatte längst auch sein Revier durcheinandergewirbelt. Ihm war klar, dass er zunehmend die Kontrolle über das Geschehen verlor. Und er spürte, dass ihm die rastlose Energie und dieser unstillbare Ehrgeiz verloren gingen, die ihn stets vorwärts getrieben hatten wie Wasserstoff und Sauerstoff eine Rakete. Ohne sie konnte am Ende des Tages keiner überleben in einem Dschungel, in dem es in jedem Sinn des Wortes ums Fressen ging, oder ums Gefressen werden.
Читать дальше