Cloe versucht zu helfen: »Wie war das noch mit dem Buch, das du von deinem Ausbilder bekommen hast? Das war doch hinter andere Bücher gerutscht. Du hattest es damals im Kummer um die Eltern …«
Mit einem Jubelruf unterbricht ihre Mutter sie und springt auf. »Die Idee ist gut!« Sie beginnt erneut im Regal zu suchen und hält kurz darauf ein dickes Heft in Händen, dessen Blätter mit einer roten Kordel zu einer Kladde zusammengehalten werden. Juna setzt sich an den Tisch, legt ihr Notizheft vor sich und atmet mehrmals langsam ein und aus, um ihre Aufregung zu dämpfen. Sie fühlt sich kurz in die Zeit von damals zurückversetzt, spürt erneut die Trauer über den Tod ihrer Eltern. Sie strafft schließlich die Schultern und beginnt, die Kladde durchzublättern. Schon bald verharrt sie an einer Stelle und schüttelt dann doch den Kopf. Nach dem Umblättern und Lesen weiterer Seiten blickt sie ihre Tochter triumphierend an.
»Mit diesem Spruch sollte es funktionieren.« Sie beschwört einen Zwerg, wirft erneut einen Blick in die Kladde, deutet mit der rechten Hand auf die Lichterscheinung, die mit der Axt einen Scheinkampf gegen einen Gegner ausficht. »Dilata!« Im nächsten Moment wächst die Gestalt bis auf die Größe eines erwachsenen Menschen oder Elfen heran. Mit der herumschwingenden Waffe wirkt der vergrößerte Zwerg nicht nur gefährlich, er ist es auch. Bevor Juna ihn zu kontrollieren vermag, fährt dessen Axt in das Bücherregal und durchschlägt mehrere Streben. Bücher fallen polternd zu Boden, denen etwas verzögert Regalbretter folgen. Hätte dort ein Wolfskrieger gestanden, wäre der sicher getötet worden. Erschrocken lässt die Elfe mit »Inhibeo« den Zwerg wieder verschwinden.
»Puh, das war nicht ungefährlich«, bestätigt die Tochter. »Kannst du eine Kreatur auch verkleinern?«
»Warte einen Moment, dafür gibt es auch einen Spruch.« Sie wirft einen Blick in die Kladde. »Genau, hier ist er. Nehmen wir erneut den Zwerg, oder was meinst du?« Da ihre Tochter nickt, ruft sie den Axt schwingenden Kämpfer wieder herbei. Erschrocken ruft sie sofort mit ausgestreckter Hand »Deduce«, da die erscheinende Kreatur die Abmessungen von soeben behalten hat. Jetzt schrumpft sie auf ihre ursprüngliche Größe. Ein weiteres »Deduce« bewirkt die Verkleinerung auf etwa die Länge eines Daumennagels. Bevor Juna den Zwerg erneut verschwinden lässt, vergrößert sie das Wesen auf seine anfängliche Größe.
»Das war beeindruckend«, bestätigt Cloe. »Die Sprüche wirken sicher nicht nur auf diese Kreaturen, oder?«
»Natürlich nicht. Als ich das notierte, hatte ich keine Ahnung, wie ich sie heraufbeschwören könnte. Warum fragst du? Aber warte einen Augenblick. Ich muss erst die Schäden beseitigen, die die Axt verursacht hat. Renovo!« Im nächsten Moment ist das Bücherregal wieder unversehrt und sogar die Bücher stehen an ihren Plätzen. Juna blickt ihre Tochter abwartend an, die langsam ihre Idee äußert.
»Für die Beschwörung der Wesen müssen wir das Buch bei uns tragen. Es wäre gut, wenn wir es verkleinern könnten, dann wäre es sowohl besser zu verbergen, als auch zu transportieren.« Sie fährt nach einem Moment zögernd fort. »Vermutlich wirken diese Zauber aber nicht auf das Buch, da Renovo nach der Beschädigung durch den Feueratem des Drachengeistes wirkungslos blieb. Die Brandspuren sind immer noch vorhanden.«
»Es stimmt, dieses besondere Artefakt, das durch Magie geschaffen wurde, konnte nicht so einfach wiederhergestellt werden«, murmelt Juna nachdenklich. »Trotzdem sollten wir es versuchen. Es kann dadurch ja kaum etwas passieren, oder?« Beide Elfen halten gespannt den Atem an, als die ältere ihre rechte Hand auf das Buch richtet und »Deduce« spricht. Zuerst meinen sie, dass genau das passiert, was sie erwartet haben, nämlich nichts. Dann vibriert es, ein heller Blitz erscheint und dann schauen beide auf eine Miniaturausgabe. Sie ist etwa zwei Zentimeter groß und wenige Millimeter dick. Aufgeregt betrachten sie die Verkleinerung.
»Jetzt probiere, ob du den Zwerg erneut beschwören kannst. Ach nein, nimm doch lieber den Greif!«, drängt Cloe aufgeregt. Sie ist genauso gespannt auf das Ergebnis, wie ihre Mutter. Zu ihrer Erleichterung klappt alles wie erhofft und die aufgerufene Kreatur hat die bisherige Größe. Schnell probiert die Tochter, ob der Vergrößerungs- und Verkleinerungsspruch jetzt genauso wirken, wie zuvor. Das funktioniert ebenfalls.
»Das war eine gute Idee von dir«, bestätigt die Mutter. »Das Buch wäre bei einer Auseinandersetzung mit den Dubharan schwierig mitzuführen, aber so ist das kein Problem.«
Die Truppen der Dubharan überfallen im Süden die Orte, die ihnen noch keine Gefolgschaft geschworen haben, wobei auch einsame Anwesen nicht verschont werden. Inzwischen bewegt sich das zweite Heer nicht mehr heimlich durch die Regionen im Osten. Es verfolgt den Auftrag, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, damit die kleine Truppe Deans ihrer Aufgabe folgen kann. Sie haben zuerst jede Auseinandersetzung vermieden und sind unermüdlich marschiert. In der Nacht legten sie nur kurze Pausen ein, um den Abstand zu Deans Schar schnell zu verringern. Als sie in der Nähe der alten Königsburg im Osten erkennen, dass ihnen das gelungen ist, greifen sie seitdem jede Siedlung an, die auf ihrem Weg liegt. Anders als das Heer im Süden lassen sie in den Orten aber keine Besatzungen zurück. Damit die wenigen Reiter Deans als Späher wirken, halten sich die Fußsoldaten nicht lange mit den Überfällen auf. Sollte der Widerstand heftiger als erwartet sein, brechen sie die Aktion ab, um den Abstand zwischen sich und den Reitern nicht wieder groß werden zu lassen. Sind sie erfolgreich, ziehen sie kurz plündernd durch die Straßen. Es wirkt wie ein unheimlicher Spuk, der Tod und Verwüstung hinter sich lässt.
In den anderen Regionen des Landes ist es dagegen bisher seltsam ruhig geblieben. Das große Heer, das von Finn und Ryan beobachtet wird, hat, bis auf den eher zaghaften Angriff auf den kleinen Ort im Westen, keine weiteren Aktionen gestartet. Es scheint das Ziel zu verfolgen, möglichst unbemerkt und ohne Aufsehen in den Norden vorzustoßen.
Von alldem bekommen Juna und Cloe in ihrem einsam gelegenen Haus nichts mit. Seit das Volk der Südelfen vor vielen Jahren durch die Dubharan vernichtet worden war, hat sich Juna in die Einsamkeit zurückgezogen. Auf einer der wenigen Zaubererversammlungen, an denen sie dann noch teilgenommen hatte, lernte sie durch Zufall den späteren Vater Cloes kennen. Ihr neues Heim verlassen wollte sie nicht. Sie hatte sich derart an ihr zurückgezogenes Leben gewöhnt, dass dieser ihr ohne Widerspruch dorthin folgte. Sie lebten zufrieden für sich allein, bis ihr Glück mit der Geburt Cloes vollständig zu sein schien. Gelegentlich besuchte Ainsley, die Schwester des Vaters sie, die zur Patin der jungen Elfe ernannt worden war. Doch als die Dubharan ihren zweiten Versuch unternahmen, die Herrschaft im Land an sich zu reißen, konnte und wollte der Vater die Elfen seines Volkes im Osten unterstützen. Er starb bei dem Kampf um die Königsburg der Menschen und hinterließ eine verbitterte Elfe mit einem kleinen Kind. Diese zog, auf sich allein gestellt, ihre Tochter liebevoll auf, denn ein Ortswechsel kam für sie jetzt erst recht nicht in Frage, obwohl ihre Schwägerin sie oft drängte. Seit jenem Verlust forscht Juna nach einer Möglichkeit, die verhassten Dubharan für das ihr zugefügte Leid zu bestrafen.
Während der Suche nach magischen Wesen an der Westküste, hatte Cloe von ihrer Mutter endlich die Gründe für ihr zurückgezogenes Leben erfahren. Die junge Elfe versucht deshalb ebenso wie Juna, diese Kreaturen zu beherrschen. Dabei ist ihr der Greif am liebsten.
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