Vor einhundert Jahren war es nicht viel anders gewesen. Daran erinnert sich außer Elfen, die ein längeres Leben als Menschen haben, niemand. Aber Erzählungen und Geschichtsschreiber halten die Geschehnisse lebendig. Der Sturm der Heere der Dubharan fegte damals Richtung Süden übers Land. Zuletzt hatten sich alle dort lebenden Elfen und die sie unterstützenden Menschen in die Mauern der Burg Deasgard, das bedeutet Südfestung, zurückgezogen. Auf Seiten der Dubharan kämpften wie stets grausame Wolfskrieger, aber auch das todbringende, drachenähnliche Wesen, das damals zum ersten Mal in Erscheinung trat. Die dunklen Zauberer schleiften bei diesem Versuch die Burg und alle Verteidiger wurden getötet. Damals löschten sie das Volk der Südelfen aus. Hilfe von weiteren Elfenvölkern und mit ihnen verbündeten Menschen aus anderen Regionen kam zu ihrer Rettung zu spät. Doch schließlich schlugen diese die Dubharan zurück. Sie setzten den fliehenden Truppen hinterher und stellten sie mehrmals, wobei es gelang, viele der gegnerischen Kämpfer und Zauberer zu töten.
Jetzt ist es also wieder so weit. Bisher ist der tödliche Drache nicht in Erscheinung getreten, aber trotzdem wurde der Süden nicht nur angegriffen, sondern auch schnell unterworfen. Die in den verschiedenen Orten stationierten Truppen werden inzwischen auf ihre neuen Befehlshaber eingeschworen. Das erfolgt nur teilweise unter Zwang. Es gibt viele Menschen, die sozusagen mit den Wölfen heulen, um ihre eigene Haut zu retten. Andere wiederum brennen einfach darauf, sich bei den kommenden Kämpfen durch Plünderungen in den überfallenen Orten zu bereichern.
Den Dubharan ist es durch den schnellen Sieg im Süden gelungen, die Kampfkraft ihrer Heere auf diese Weise erheblich zu vergrößern. Sie lassen eine Besatzung unter dem Befehl einiger Zauberer in der Hauptstadt und beordern die restlichen Kämpfer zu den anderen großen Orten im Süden. Auch wenn die Hauptstadt unterworfen ist, werden sich vermutlich nicht alle Städte und regionalen Herrscher den neuen Machthabern ergeben. Es wäre aus Sicht der dunklen Magier unverantwortlich, feindlich gesinnte Regionen als Keimzellen bewaffneten Widerstandes agieren zu lassen. Deshalb ziehen die Truppen systematisch durch den Süden und stationieren in jedem Ort, der sich ihnen unterwirft, eine kleine Besatzung. Auch hier werden die kampffähigen Männer zwangsrekrutiert. In manchen Orten kommt es zu kleineren Kämpfen, wobei sich die Krieger der Dubharan stets besonders grausam verhalten. Für jeden Getöteten auf ihrer Seite werden zehn Verteidiger umgebracht, sobald die Angreifer gesiegt haben. Die Nachricht über dieses Verhalten sorgt dafür, das kaum Widerstand aufkommt. Wenn aber doch, kämpfen die Menschen verzweifelt und mit allen Mitteln. Nicht selten stehen Männer und Frauen gemeinsam mit ihren Kindern an vorderster Front. Sie finden es besser, vereint im Kampf zu sterben, als anschließend von den Gegnern grausam gequält und schließlich doch umgebracht zu werden.
Beschwörungen und Versuche
Juna und Cloe setzen ihre Übungen mit den magischen Kreaturen fort. Am besten gelingt es ihnen, einen Greif heraufzubeschwören und zu kontrollieren. Das Wesen wirkt auf beide schon fast wie ein Haustier, obwohl es das natürlich nicht ist. Cloe sieht sich neben den Übungen die Beschreibung der Kreatur in dem Buch »Magische Wesen und ihre Macht« noch einmal an, um nach weiteren Informationen zu suchen. Sie beschwört den Greif herauf, so wie sie es mit Juna schon oft gemacht hat. Es erscheint eine kleine Version dieses Wesens. Der halb durchsichtige Körper besteht aus blauem Licht. Cloe murmelt leise, was im Buch zu der Kreatur geschrieben steht. Sie beobachtet dabei fasziniert, wie die Lichtgestalt sich bewegt und die aufgezählten Merkmale veranschaulicht.
»Der Greif hat den Leib eines Löwen und den Kopf und die Flügel eines Adlers. Er vermag dank großer Intelligenz schnell auf Situationen zu reagieren. Im Kampf ist er ein nicht zu verachtender Gefährte. Seine scharfen Krallen und der Schnabel können einen Gegner in Sekundenschnelle in Stücke reißen. Da er ungeheuer stark ist, kann er sie auch ergreifen und in große Höhe tragen, um sie dann dort fallen zu lassen.« Doch das hat Cloe bereits alles von Juna erfahren. Sie verbringt einen Tag mit dem Studium der anderen Bücher und erfährt, die herausragendsten Eigenschaften dieses Wesens sind Stärke und Wachsamkeit. In bildlichen Zusammenhängen kommt der Greif häufig in einer Wächterrolle vor, beispielsweise als Hüter des Grabes oder des Lebensbaums. Er vermag alles Böse in Gestalt von Löwen, Schlangen und Basilisken zu überwinden und abzuwehren. Die Elfe weiß natürlich nicht, wie wichtig diese Informationen eines Tages sein werden!
Manche der magischen Kreaturen lassen sich schwieriger als andere kontrollieren. Obwohl Juna und Cloe es schließlich mit großer Ausdauer bei fast allen schaffen, widersetzt sich der Drachengeist immer noch. Daneben stellen sie bei ihren Übungen drei weitere Nachteile fest.
1. Sie benötigen das Buch, damit sie eines der magischen Wesen heraufbeschwören können.
2. Die Kreaturen sind nur etwa so groß, wie eine Hand breit ist.
3. Ein Mehrfachaufrufen bewirkt keine Vervielfältigung des Wesens.
Der gravierendste Mangel ist wohl, dass das Buch nicht nur zum Aufrufen, sondern auch zum Bestehenbleiben der Beschwörung erforderlich ist. Tragen Cloe oder Juna das Buch nicht bei sich, können sie keines der Wesen aufrufen.
Hat die Tochter beispielsweise den Greif herbeigerufen und die Mutter verlässt den Raum und nimmt das Buch mit, verschwindet die Kreatur sofort, ohne dass Cloe etwas dagegen machen kann.
In der ersten Zeit meinen die Elfen, immer nur eines der Wesen beschwören zu können, sei sogar noch nachteiliger. Juna insbesondere hofft, eine ganze Armee der jeweiligen Kreatur wäre besonders wirkungsvoll im Kampf gegen die Dubharan. Sie berücksichtigt dabei nicht, dass die Kontrolle mehrerer Wesen entsprechend schwieriger sein muss, als wenn es nur um eines geht.
Die Größe der Kreatur hat jedoch keinen Einfluss auf ihre Stärke. Der kleine Greif vermag enorme Lasten in die Luft zu tragen, was Cloe bei einem Test herausfindet. Sie denkt auch an den Versuch Junas zurück, als diese den Drachengeist zu kontrollieren versuchte. Dessen Feueratem war so heftig, dass ihre Schutzglocken innerhalb kürzester Zeit zusammenbrachen. Die starke Wirkung war der ähnlich, die dem drachenähnlichen Wesen zugeschrieben wurde, das die Dubharan bei ihrem ersten und zweiten Versuch der Machtübernahme nutzten.
»Die Größe der magischen Kreatur ist nicht ausschlaggebend«, stellt die junge Elfe fest. »Die Stärke ihrer Eigenschaften wird davon nicht beeinflusst.«
»Trotzdem kann eine Erscheinung allein durch ihre Größe beeindrucken. Uneingeweihte Gegner können schon durch den Anblick Furcht verspüren und die Lust auf einen Kampf verlieren«, entgegnet Juna.
»Das stimmt. Daran habe ich nicht gedacht. Kennst du einen Zauber, der eine Vergrößerung bewirkt?« Cloe schaut ihre Mutter gespannt an. Sie hat schon mehrfach darüber nachgedacht, ohne einen Spruch zu finden.
»Es gibt Bücher, in denen …« Plötzlich schweigt Juna. Dann fährt sie mehr im Selbstgespräch, als zur Tochter gewandt fort: »Das ist eine Idee. Vielleicht …? Ja, das könnte sein. Und wo habe ich meine Aufzeichnungen? Die müssen doch auch in dem Regal sein.« Cloe folgt mit ihren Blicken der Mutter, die zielstrebig zu einem Büchergestell tritt und die Buchrücken betrachtet. Die Suche dauert lange. Schließlich setzt sich Juna enttäuscht auf einen Stuhl. »Unter den Büchern befindet sich keines, das vielversprechend ist, und meine Kladde ist auch nicht zu finden.« Mit gekrauster Stirn blickt sie durch den Raum.
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